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die welt liegt uns zu füßen

Cartagena: fast eine Hymne

Cartagena klebt. Zwischen den Fingern. In der Ellenbeuge. Am Haaransatz. Auf der Nase. Am linken Knie, vorne und hinten. Eigentlich überall. Dabei sind es gerade mal 30 Grad, vielleicht 31, aber feucht und schwül.

Zum Glück kann man ja auch zweimal am Tag duschen und dann frisch in den Abend schlendern, der eh alles anders macht. Nicht nur wegen der sanfte Brise, die dann plötzlich vom Meer herüberweht, das man hier in der Altstadt auf allen Seiten findet. Weil sich das historische Zentrum der Stadt auf einer Halbinsel befindet. Zwischen breiten, Jahrhunderte alten Mauern.

Und dazwischen wiederum: enge Gassen mit Bauten aus Kolonialzeiten. Am Rand sind viele nur eingeschossig, weiter drinnen haben die meisten mindestens eine zweite Etage. Mit ausladendem Holzbalkon. Und rankenden Blumen.

Hier und da eine Plaza mit Bäumen. Und den ambulanten Kaffeehändlern, die mit ihren Thermoskannen an jeder Ecke zu finden sind. Ihr Kaffee ist klein, schwarz, zuckersüß. Großartig. Wer will, bekommt auch einzelne Zigaretten oder Snickers bei ihnen.

Und dann die Streetfoodverkäufer, die ihre Würste braten, ihre panierten Kugeln mit Fleisch oder Huhn oder Käse (was sonst?) frittieren, oder ihre Arepas con queso brutzeln. Oder frisch geschnittenes Obst anbieten. Sortiert oder gemischt. Oder oder oder.

Und dann eben diese Gassen. Im leicht orangenen Licht. Durch das die Menschen fließen. Vorbei an den unzähligen Restaurants. Vorbei an dem Haus, in dem im zweiten Stock anscheinend allabendlich jemand bei geöffnetem Fenster Klavier übt, oder nein, er übt nicht, er brilliert. Vorbei an dem Haus, in dem der Kirchenchor probt. Oder der Club colombo-aleman seine Schüler zum „Vorlesewettbewerb“ lädt. Es gibt Büchergutscheine zu gewinnen. Vorbei an der Kirche, aus der das Brautpaar geleitet von sprühendem Feuerwerk in die Kutsche steigt und davonfährt. So wie alle Paare hier mit einem Hauch von Romantik. Vorbei an den unaufdringlichen Typen auf der Plaza mit der Turmuhr, die einem ihre Angebote zuhauchen (Marihuana? Chicas?) Vorbei an den dazugehörigen Damen mit den offensiv tiefen Ausschnitten, die auffällig unauffällig auf den Bänken mitten zwischen all den Touristen sitzen, gleich vor der Bar, in der Sicherheitsleute von Barack Obama bei dessen Staatsbesuch vor ein paar Jahren ein Problem wegen irgendwas mit Drogen und Prostituierten bekamen. Vorbei an der Tänzergruppe auf der nächsten Plaza. Dem Pärchen, das mit Digeridoo, Klarinette und Augenmasken sein Publikum unterhält.

Vorbei an den schwarzen Frauen in ihren orange-gelben Kleidern, die ihre Ware, selbstgebackenes Irgendwas, in Schüsseln auf dem Kopf herumtragen. Vorbei an den herumlaufenden Huthändlern, die ihre Sombreros turmartig auf der einen Han stapeln, und mit der anderen einen den Passanten ungefragt gleich auf den Kopf setzen, nur um dann blitzschnell – womit eigentlich, wenn doch bei Hände beschäftigt sind? – einen Handspiegel hervorzuzaubern, der unwiderlegbar beweist, wie gut das aussieht und dass man den Hut jetzt aber unbedingt auf jeden Fall kaufen muss.

Vorbei an der akrobatischen Streetdancegruppe. Vorbei an der „casa del habano“, die laut Aushang die natürlich besten Mojitos der Stadt bietet. Vorbei an den Zigarrenhändlern, Cohibas, garantiert echt!

Und ab und an und immer wieder stehen bleiben. Oder sich hinsetzen.

Besonders schön: auf der Plaza vor dem kleinen, aber besuchenswerten Museo de Arte Moderno steht eine ganze Reihe Skulpturen, die genau dieses Strassenleben zeigen: den Schuhputzer, den Saftpresser, zwei Schachspieler, einen Mann mit Nähmaschine, zwei Streitende auf einer Bank und noch viele mehr.

Man könnte stundenlang einfach nur umherstreifen. Schauen, schauen, schauen. Man könnte nicht nur, man tut es auch. Vorbei an den hupenden Taxis, die nicht weiterkommen, weil weiter vorne ein anderes Taxi gerade jemand ein- oder aussteigen lässt, und dann gar nichts mehr geht in den einspurigen Straßen. Außer eben hupen. Und das tut man dann auch.

Man könnte eine Hymne auf diese Stadt schreiben. So schön.

Der einzige Makel: man hat diese Einsicht bei weitem nicht exklusiv. Es sind hunderte, ach tausende, die mitströmen. Vor allem, wenn mal wieder ein Kreuzfahrtschiff im Hafen liegt.

Und erst recht, wenn Filmfestspiele sind, wie an diesem Wochende. Was man schon daran erkennt, dass jeder Zweite mit seinem Festival-Ausweis vor dem Bauch durch die Stadt schlappt. Die Festspiele heißen hier natürlich nicht Berlinale, sondern Ficci. Festival international del cine de Cartagena de las Indias.

Denn das ist der vollständige Name dieser Stadt. Cartagena von Indien – was ganz nebenbei besagt, wie alt diese Stadt schon ist, gegründet wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas, vielleicht sogar schon, als diese Gegend von den meisten eben nicht für den neuen Kontinent Amerika, sondern eben für irgendeine Ecke in Indien gehalten wurde.

Die Filmfestspiele zeigen – wie die Berlinale – ein buntes Programm. Ein Wettbewerb, diverse Retros, ein Mitternachtsspezial mit gewagten Filmen – darunter auch die gute alte Rocky Horror Picture Show.

Ich hatte erst überlegt, gleich ins Kino zu gehen, doch die Säle liegen offenbar sehr weit über die Stadt verstreut. Oder sagen wir mal über die mindestens drei Städte, aus denen Cartagena besteht.

Denn neben der Altsstadt gibt es da noch die Neustadt Bocagrande, die auf einer weiteren Halbinsel gleich nebenan liegt, zwischen dem weitem Hafenbecken und der Karibik. Dort schießen die Wolkenkratzer gerade aus dem Boden. Extrem schlanke, meist weiße Wohn- und Hoteltürme, dicht an dicht auf einem schmalen Streifen Land.

Gerade wird an der neusten Generation gebastelt. Kräne ziehen gleich fast ein Dutzend Häuser hoch, die 40 und mehr Stockwerke haben und die die offensichtlich auch nicht viel ältere Konkurrenz mit nur rund 25 Etagen in den Schatten stellen.

Und dann ist da noch das wirkliche Cartagena, das kaum ein Tourist zu Gesicht bekommt, außer bei der Taxifahrt vom weit außerhalb liegenden Busbahnhof. Die führt fast eine Stunde lang durch vollkommen verstopfte Straßen, an denen sich ein Kleingewerbe an das nächste reiht. Bettenbauer, Reifenflicker, Gemüsehändler, Drogisten, Eisenwarenverkäufer, Minimärkte, Kopierläden, alles was man sich vorstellen kann. Und noch viel mehr.

Zwischen den brummenden, hupenden und meist stehenden Autos drängeln sich dort Fußgänger hindurch, Motorrad- und Rikschafahrer. Und Männer, die schwere Lasten wie etwa Zementsäcke oder Eisenträger auf dreirädrigen Karren durch die Gegend schieben. Keiner von all denen hier, soviel dürfte klar sein, wird sich jemals eins der Zimmer mit Aussicht auf Bocagrande leisten können. Und in die Altstadt werden all diese Menschen wohl auch nie gehen, es sei denn, sie wollen den Touristen etwas verkaufen.

Einen Film gesehen habe ich dann aber doch. Denn eine der vielen Sektionen des Festivals lautet „cine abajo de las estrellas“- Kino unterm Sternenhimmel. Auf einem langgestreckten Platz in der Altstadt stehen hunderte weiße Plastikstühle vor einer großen Leinwand, auf der am Donnerstag als angebliche Weltpremiere der Film „eso que llaman amor“ (Was man Liebe nennt) lief.

Ein Episodenfilm, in dem u.a. ein Mann und eine Frau zusammenfinden, die beide ihr Geld als silber- bzw. goldbemalte lebende Statuen in der Fußgängerzone verdienen, in dem ein altes Paar mit Kuchen ein Jubiläum feiert, was völlig schief läuft, und in dem eine junge blondierte Frau sich als Luxusprostituierte in einem Hotel durchschlägt.

Am zweiten Abend streife ich durch das Viertel Getsemani, das nicht ganz so alt und nicht ganz so rausgeputzt ist wie die Altstadt, aber gleich nebenan liegt und sich zum neueren Ausgehviertel entwickelt.

Auf der hübsch unspektakulären Plaza vor der Kirche, wo am Nachmittag ein paar Strassenmusiker vergeblich versucht hatten, Leute anzulocken, ist es jetzt rappelvoll. Auf der einen Seite wird an den Streetfoodständen gebrutzelt. Und in der Mitte wird getanzt. 30 bis 40 Menschen, meist junge Frauen und ein paar junge Männer versuchen die wilden Figuren nachzuvollziehen, die abwechselnd drei Vortänzer vorgeben.

Die Musik? Zumba? Kein Ahnung. Schnell, stampfend und extrem Latino bollert es aus einer Box am Rande, wo die Zuschauer auf Bänken oder der der Treppe vor der Kirche sitzen.

Ab und an schlendern zwei Polizisten durch die Menge, ermahnen die Besucher und nehmen ihnen die gerade nebenan im Spätverkauf erstandenen Bierflaschen weg. Alkohol in der Öffentlichkeit ist also auch hier verboten.

Gegen 22 Uhr ist das wilde Getanze vorbei. Ein halbes Dutzend junger Frauen, Mädchen eher noch, übernimmt den Platz. Alle tragen Fussballtrikots, Sporthosen, Turnschuhe. Und das passt ja auch. Denn sie machen genau das: kicken! Und offensichtlich nicht zu ersten mal. So wie die Sechs gekonnt den Ball stoppen, passen, per Hackentrick weitergeben, würde das in Deutschland mancher Junge gern können.

Auf dem Heimweg nach Mitternacht noch in der Nähe des Hostals auf der kleinen Plaza vor einem der Unigebäude gelandet. Hier sitzt studentisches Publikum auf den Bänken unter den Bäumen. Und alle trinken ganz selbstverständlich Bier. Oder härteren Alkohol. Hier scheint das kein Problem zu sein. Vielleicht aber auch nur, weil gerade keine Polizei da ist.

Aber ich will nicht warten, um zu sehen, was passiert, falls die doch mal kommt. Denn ich klebe längst wieder. Es wird Zeit für die nächste Dusche.

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