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die welt liegt uns zu füßen

Ciudad Perdida (1): Mit Carlos im Wald

Dieser Wald ist bewohnt. Das muss man vorab sagen. Nicht nur von laut zwitschernden Vögeln, unzähligen Insekten und Affen, die man immerhin von weitem hört. Sondern auch von Menschen. Weiter unten sind es Campesinos, die hier versuchen Landwirtschaft zu betreiben, weiter oben die Tairona, ein Volk, das hier schon lebte lange bevor die Spanier kamen.

Wir sind zwei Stunden in einem Jeep von Santa Marta hier hoch gegurkt. Erst eine Stunde über die Landstraße parallel zur Küste, dann eine zweite Stunde über rumpelige Schlaglochpisten hoch zum Dorf Machete, wo es erstmal Mittagessen gab.

Wir sind ein von den örtlichen Tourveranstaltern bunt zusammengewürfelter Haufen. Zwei Freunde aus Buenos Aires, ein Pärchen aus Amsterdam, ein weiteres aus Paris, ein Engländer, ein Australier, ein Quintett aus Leipzig und ich.

Und Carlos.

Carlos ist unser guia, er wird uns in den kommenden vier Tage hoch zur ciudad perdida führen – und wieder zurück. Zur verlorenen Stadt, die einst die Taimara oben in den Berge angelegt und vor rund 400 Jahren verlassen hatten, so dass sie komplett vom Regenwald überwuchert wurde. Erst Mitte der 1970er Jahre wurde sie wieder entdeckt.

Carlos muss man sich als glücklichen Menschen vorstellen. Der 58-Jährige lebt seit über Jahren hier im Tal, kennt jeden, wirklich jeden Einheimischen, den wir in den nächsten Tagen auf dem schmalen Weg treffen werden. Und er hat immernoch ein kleines Häuschen, auf der anderen Seite des Tals, das wir am Morgen des zweiten Tages durchwandern werden. Da drüber, wird Carlos dann mit unübersehbarem Stolz sagen, und auf die Hütte und die grünen Weiden an den Hängen zeigen. Auch wenn er selbst kaum noch dort ist, weil er fast immer als Guia mit Touristen unterwegs ist.

Der Mann mit dem lustigen dicht-schwarzen Walrossschnauzer weiß alles. Wo die besten Badestellen im Fluss sind und von welchem Felsen man dort reinhüpfen kann (wenn man es nicht vorzieht, doch einfach so reinsteigen), wie man einen Gurupendula von einem Tukan unterscheidet (beide sind schwarz, der Tukan fliegt aber mit seinem großen gelben Schnabel voran, während der Gurupendula, der seine Rucksackartigen Nester hoch in den Bäumen baut, seinen gelben Schwanz hinter Sicht herzieht), wie man einen Indigena ordnungsgemäß begrüßt, wenn man ihm unterwegs trifft (Hola compadre bzw. Hola commadre, wenn es eine Frau ist), wie hoch ein Mastre, einer der höchsten Bäume des Waldes werden kann (140
Meter) und warum sich beim Wandern auf steilen Strekcn nicht einfach an einem Baum festhalten darf (weil er bis zu fünf Zentimeter lange Stacheln an seinen Rinden hat, die die Indigenas zusammen mit Froschgift zu tödlichen Pfeilen verwandeln, die aber auch so schon schmerzhaft genug sein sollen, wenn man versehentlich reingreift), dass hier Bananenstauden wachsen, die keine Früchte, sondern nur roten Blütenstände tragen (die deshalb a) platnollos, also kleinen Bananen heißen und die b) gern von Kolibris angeflogen werden, da, schau an, ist ja schon einer) und und und.

Carlos bliebt gerne mal stehen und erzählt. Gern auch länger, was kein Problem ist, weil man sich bei den meist steil aufsteigenden Wegen über jede Pause freut.

Außer vielleicht Martín. Den argentischen Grillhändlet hat sich Carlos als Doltmetscher auserkoren. Weil Carlos kein Englisch spricht. Und über die Hälfte der 14-köpfigen Truppe kein oder nur wenig Spanisch versteht.

Martín, ein sympathischer Typ mit auffälligen Tattoos, Dichtem schwarzen Vollbart am Kinn und Piratenkopftuch über dem spärlichen Haupthaar, ist ein perfekter Übersetzer. Denn Carlos erzählt manchmal etwas ausschweifend. Und manchmal wiederholt er sich gern. Dann übersetzt Martín schlicht: and that it is. Und alle lachen.

Oder wenn Carlos vieldeutige Sätze sagt, wir „mira el roque“, aber nichts weiter dazu sagt. Und Martín dann hochgezogenen Brauen übersetzt: „look at this rock!“

Aber Carlos kann wirklich gut erzählen. Lang. Breit. Ausführlich. Etwas über die Entwicklung in diesem Tal. 20 Jahre lang, erzählt er, hätten die Campesinos hier an den Hängen Marihuana angebaut. Dann sei die Regierung dagegen angegangen. Mit aller Härte. Aus Flugzeugen wurde Gift gesprüht, dass nicht nur das Marihuana, sondern so ziemlich alle Pflanzen attackierte. So sehr, dass die Bauern schließlich aufgegeben und die Marihuanapflanzen ausgerissen hätten.

Da sie aber von irgendwas leben mussten, sind sie auf eine andere Pflanzen umgestiegen: Coca. Das habe gleich mehrere Vorteile gehabt. Zum einen werden bei Coco-Pflanzen nur die Blätter gepflückt und nicht wie bei Marihuana die ganze Pflanze abgeerntet. Man musste also nicht ständig neue Setzlinge pflanzen, sondern konnte mehrfach pro Jahr ernten. Außerdem brachte die Coca mehr Geld als Marihuana.

Nachteil allerdings sei die Mafia aus Guerilla oder Paramilitärs, die dann auch hier das Geschäft kontrolliert hätten. Mit aller Brutalität. Es habe viele Tote gegeben, erzählt Carlos. Schließlich sei die Regierung wieder eingeschritten und habe auch den Coca-Anbau verboten. Heute dürfe jede Familie nur noch eine Handvoll Pflanzen für den Eigenanbau haben.
Die Campesinos seien darüber nicht glücklich gewesen. Schließlich hätten sie ihre Einnahmequelle verloren.

Zwar habe die Regierung Saatgut für andere Pflanzen angeboten. Sein Bruder habe seither eine kleine Finca mit Kaffee. Andere pflanzen Bananen an. Aber besser Laufe es erst, seit die Touristen kommen.

Und die kommen mittlerweile zwar nicht gerade in Strömen. Aber sie sind unübersehbar im Tal. Wenn eine der Gruppen, die ja alle ungefähr den gleichen Zeitplan haben, eine andere, etwas langsamer überholt und zudem weiter trifft, die schon auf dem Rückweg sind, wirkt das Tal fast schon überlaufen.

In der einfachen Hütte mit den aus rohem Holz gezimmerten Doppelstockbetten, in der in der zweiten Nacht alle landen, die am Morgen des dritten Tages hoch zur Ciduad Perdida wollen, waren mit uns rund 80 Leute. Platz wäre dank zahlreicher Hängematten für bis zu 140 gewesen. Und wenn noch mehr kommen? Es sei noch eine weitere Hütte geplant, sagt Carlos. Dann wird es hier richtig voll.

Das letzte Wort darüber aber haben die Tairona, die Indigenas dieses Tals. Sie haben schon durchgesetzt, dass die Ciudad jeden September für 14 Tage gesperrt wird, damit sie dort in Ruhe ihre religiösen Zeremonien durchführen können. Ursprünglich wollten sie sogar einen ganzen Ruhemonat, aber das wollte die Regierung dann doch nicht.

Noch weitreichender war die Forderung des Rates der Indigenas, als sie feststellten, dass mehr und mehr Touristen auch nachts über die Ruinen der Ciudad Perdida kletterten. Auch Paare. Was die da genau gemacht haben, sagt Carlos nicht. Nur dass das den Indigenas eindeutig zu weit ging, weil die Ruinen für sie heiliger Ort und Friedhof zugleich sind.

2013 wollten sie daher den Zugang zum Gelände komplett sperren – bis schließlich ein Kompromiss gefunden wurde. Seither ist die letzte Übernachtungshütte, die unten im Tal, von der aus man nochmal ein gute Stunde hochkraxeln muss. Die Cabañas direkt neben den Ruinen, die es bis dahin gegeben hatte, wurden geschlossen.

Solche Entscheidungen treffen die Indigenas bei Versammlungen in einem Dorf, das eigens dafür errichtet wurde und das wir auf dem Weg zur Ciudad passieren. Dort stehen rund 30 kleine Runde Hütten, komplett aus Holz und Palmblättern errichtet. Rund seien die Häuser, sagt unser allwissender Guia, seien die Hütten, weil für die Indigenas alles wichtige rund ist. Die Sonne, die Erde, der Mond. Und auch der poporro. Das ist dieses seltsame Ding, dass die Männer der Taimara mit sich herumschleppen. Was es damit auf sich hat? Das, sagt Carlos, werde er später erklären.

Die Familien leben in diesem Dorf nur, wenn es Zeit für die zwei- bis vierwöchige Zusammenkunft ist, erklärt Carlos. Ansonsten steht es, so wie jetzt, weitgehend leer. Nur ein Lider ist dort. Der trägt die typische weiße Kleidung, eine weiße Mütze und empfängt nicht nur uns, sondern betreut auch die Erste-Hilfe-Station, die von der Regierung am Rande des Dorfes gebaut wurde. Das Haus fällt auf, weil es eckig ist und ein klassisches Dach hat.

Der Lider, mit denen (mutmaßlich) vom Coca-Kauen hängenden Backen, antwortet zögerlich mit leiser Stimme auf ein paar unserer Fragen. Ob sie zum Beispiel noch ihre Sprache pflegen? Ja, sagt Carlos. Er bittet den Lider, uns das Wort für Sonne zu sagen, das sei wichtig, weil die Sonne der wichtigste Gott der Tairona sei. Der Lider flüstert nuschelnd, welches Wort? Carlos sagt es ihm vor. Er wiederholt es.

Viele Tairona, hatte Carlos auf dem Weg hierher gesagt, würden mehr und mehr ihre Kultur verlieren.

Normalerweise dürfen die Touristen nur noch einen Weg am Dorf vorbei laufen. Auch ein Beschluss der Tairona. Wer will schon, dass täglich hundert Fremde durch sein Wohnzimmer latschen. Aber weil Carlos ein guter Freund des Liders ist, darf seine Gruppe, dürfen wir, einmal mitten durch.

Dann geht es weiter. Bergauf, bergab, aber meistens bergauf über schmale Pfade, mal entlang einer steil abfallenden Hangkante, mal unten durch den Fluss, einmal über eine Hängebrücke. Ab und an gibt es eine Haltepunkt, an denen wir Orangen oder ein Stück Melone bekommen. Oder auch einen Schokoriegel aus Carlos schier unerschöpflichem Rucksack.

Der junge Holländer und der Australier schwärmen sich unterwegs von ihren Erfahrungen mit Computerspielen vor. Oder sie diskutieren über die Herr-der-Ringe-Filme.

Die Leipziger Medizinstudierenden erzählen sich gegenseitig von den Gemeinheiten ihrer Prüfer.

Der Argentinier übersetzt, was Carlos erzählt.

Ich schnaufe. Angeblich soll der Weg bis zu den Ruinen insgesamt kaum mehr als 10 Kilometer sein. Aber ich glaube, die haben da nur die Luftlinie gemessen und nicht die unzähligen Serpentinen, in denen der Pfad sich die Berge steil rauf und wieder runterschlängelt. Mir sind bis zu sieben Stunden am Tag unterwegs. Meine Beine beginnen zu schmerzen.

Und was ist nun mit der Ciudad Perdida? Lohnt der ganze Aufwand? Und kommen alle geil zurück? Das würd in Teil 2 und 3 stehen. In Kürze hier. 

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