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Ciudad Perdida (3): der lange Abstieg und der allwissende Schamane

Es ist der Schweiß, der aus den Haaren regnet. Die Stirn herunterfließt auf die Nase. Auf die Lippen tropft und auf das Kinn. Und weiter auf das eh schon klatschnasse Hemd bis hinunter auf die Schuhe. Es geht aufwärts, bevor es bergab geht. Auch am vierten Tag. Ohne Felsbrockentreppen. Einfach nur so, steil. Sehr steil bergauf.

Carlos hatte gesagt, oben sei der Stand, wo wir auf dem Hinweg Orangen bekamen. Damals vor zwei Tagen. Oder waren es drei? Und jetzt führt nach jeder einzelnen der vielen Kurven auf diesen lehmigen Serpentinen der Blick nach oben. Ist der Stand schon in Sicht?

Nein, wieder nicht.

Und jetzt?

Nein, wieder nicht.

Der Arm wird schwerer, obwohl die Wasserflasche, die er trägt, immer leichter wird.

Die Schulter ist hart wie Stahl und mag den Rucksack nicht mehr tragen.

Die Beine laufen noch. Linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Sie schieben sich nach vorne, tragen den müden Körper voran, bergauf. Keine Ahnung wie.

Ich habe Angst, dass mein Knöchel wieder schmerzt, so wie gestern beim Abstieg – von einem Moment zum anderen, ohne dass etwas passiert wäre.

Martín, der Argentiniern, läuft nur doch dann „deutscher Medizin“, Pillen und eine Bandage ums linke Knie, die ihm die Medizinstudentenkombo aus Leipzig verpasst hat. Michelle, die Leipzigerin, trottet mal meilenweit hinterher oder stürmt plötzlich voran – je nachdem wie bei ihr die Medikamente wirken. Bei ihr sind gleich Knie und Magen malade. Cris, der andere, der durchtrainierte Argentinier, hat heftige Schürfwunden an den Armen von einem Sturz. Julie, die Holländerin quält der Magen. Victor, der Franzose, läuft inzwischen barfuß, wegen der Blasen an den Füße.

Bald, sagt Carlos, bald sind wir da. Noch 20 Minuten bis zum Aussichtspunkt. Und danach höchstens noch zweieinhalb Stunden. Meistens flach, sagt Carlos und grinst nicht mal dabei. Flach, das heißt für ihn auch, wenn es alle paar Meter abwechselnd steil rauf oder runter geht. Und nicht eine Stunde am Stück nur rauf. Was dir die Kräfte raubt. Oder nur runter. Was dir die Knie ramponiert.

Dabei haben wir Glück. Es ist bewölkt. Die Sonne brät uns nicht wie ein Ei in der Pfanne. Es ist nicht heiß. Feucht vielleicht, das ja, aber eben auch kein Regen, der die Lehmwege in reinste Matschlandschaften und die felsigen Abshnitte in glitschige Rutschgefahren verwandeln würde. Alles bestens also, wir können uns nicht beschweren.

Ich kann nicht mehr.

Gestern, am dritten Tag, nach dem Besuch oben in der Ciudad Perdida, nach dem Gekraxel die 1.200 steilen Felsstufen wieder runter zu Fluss, den wir zum x-ten Mal auf wackeligen Felsbrocken überqueren – und an dieser Stelle einem nicht gerade unrutschigen Brett – gab es abends gleich zwei Belohnungen.
Erst durften wird nochmal an der wunderbaren Badestelle in den kühlen Fluss springen. Zwischen Felsen eintauchen. Gegen die Strömung der kleinen Kaskaden anschwimmen.

Und dann – das hatte Carlos mit seiner unnachahmlichen Leidenschaft für cliffhanger seit Tagen angekündigt – gab er endlich die Geschichte des poporro zum besten.

Bei flackerndem Kerzenlicht setzt er sich zu uns an den Abendbrottisch und holt aus. Wir kennen das ja schon. Er bevorzugt mal wieder die lange Version der Geschichte. Martín, der wie immer ins Englische übersetzt, lächelt gequält.

Der poporro, das ist ein kleiner Kürbis, unten breit und kugelrund, nach oben in einen Hals mündend, in dem ein langer Stock steckt. Alle Indigenas hier, also alle Tairona, haben eine poporro. Also die Männer, nur die Männer, wie Carlos erklärt. Eso es su cultura. That’s their culture, übersetzt Martín.

Den ersten poporro erhält ein Tairona, wenn er 18 Jahre alt wird – von seinem Schamanen. Der erste poporro halte zwar auch nicht länger, als alle anderen, nur ein paar Monate, dennoch begleitet er einen Tairona durch das ganze Leben bis in den Tod und wird dann mit ihm begraben.

In dem Kürbis ist ein feines weißes Pulver. Nein, betont Carlos, das sei keinesfalls Kokain, sondern Muschelkalk, der aus einer ganz bestimmten Muschel gewonnen werde, die es in einer ganz bestimmten Bucht unten an der Küste mit haushohen Wellen gebe.
Mit dem oben im Kürbis steckenden Stock holt der Tairona kleine Portionen des Muschelkalks heraus und steckt sie in eine seiner beiden Backentaschen, in die, in der er zuvor schon einen ganzen Ballen Kokablätter weichgekaut hat.

Der Muschelkalk, das erklärt Carlos nicht, dient offenbar dazu, die Wirkstoffe aus den Kokablätter zu lösen. In Bolivien wird dafür Asche, zum Beispiel aus Bananen genutzt, hier eben Muschelkalk.

Koka und Muschelkalk, erklärt Carlos, seinen ein ganz normales Nahrungsmittel für die Tairona. Deshalb würden sie es immer essen. Morgens, mittags, abends, nachts.
Wie hoch der Stellenwert der Kokablätter in dieser Kultur ist, zweigt auch die besondere Art der Begrüßung, wenn sich zwei Tairona auf dem Weg begegnen. Sich greifen in die gewebten Umhängebeutel, die sie auf der rechten Seite vor dem Bauch tragen, holen ein paar Kokablätter hinaus und stecken sie den Beutel des Entgegenkommenden.

Für den spirituellen Schamanen eines Tairona-Volkes aber, hat der poporro und die Koka noch eine viel weitreichendere Bedeutung. Denn wenn der Schaman wissen wolle, was passieren wird, ziehe er sich mit seinem poporro zur Konzentration in die Einsamkeit zurück. Und dann könne er Inder Kalabasse lesen, wie wir in einem Buch.

Und jetzt, sagt Carlos und wackelt beschwörend mit seinem Waltrossschnurrbart, jetzt werde er uns von einer Tragödie erzählen, von der außer den Tairona nur sehr wenig Menschen wüssten. So wie er, da er sehr viel mit den Indigenas kommuniziere.

Die Kerzen flackern sanft im Wind. Den ersten aus der Gruppe fallen die wandernmüden Augen zu.
Vor fünf oder sechs Jahren, erzählt Carlos, habe der Schamane Romaldo, den wir am morgen in der. Ciudad Perdida kennengelernt hatten, in seinem poporro gelesen, dass es ein heftiges Unwetter geben werde, mit Hagel und Wassermassen, die den kleinen Fluss unten im Tal auf eine Höhe anschwellen lassen würden, wie man sie nie gekannt hatte. Romaldo habe daraufhin eine Boten ins Tal geschickt, fünf, sechs, sieben Stunden Fußmarsch hinab, um die dort lebenden Campesinos zu warnen.

Aber die hätten nur gesagt, was willst du denn, die Indio, du lügst doch. Der Bote sei verzweifelt zum Schamanen zurückgekehrt und habe berichte, dass man nicht auf die Warnung hören wolle. Da habe der Schaman gesagt, so sei es denn.

Kurz darauf kam das Unwetter und der Fluss schwoll so sehr an, dass er ein komplettes Dorf mit 400 Menschen wegspülte. Von vielen von ihnen habe man nicht Woman mehr die Leichen gefunden, da sie von der Schlammlawine verschluckt wurden. Auch eine Brücke, sagt Carlos, sei zerstört worden. Bis heute sei sie nicht wieder aufgebaut.

Seither, sagt Carlos, würden die Campesinos hier in den Bergen mehr darauf hören, was die Schamanen sagen.

Einmal, als er mit einer Gruppe Touristen oben in der ciudad perdida war, ergänzt er dann noch, habe der Schamane davor gewarnt, dass es am nächsten Morgen ein kleines Erdbeben geben werde. Die Touristen wollten das nicht glauben. Aber Carlos, der sonst jeden Morgen um 5 Uhr hier zum Bad in den Fluss springt, sei diesmal oben bei der Hütte geblieben. Zurecht. Denn das Erdbeben kam wie geheißen.

Und vor rund zwölf Jahren, sagt Carlos abschließend, habe der Schamane davor gewarnt, dass es zu einem bewaffneten Kampf zweier verfeindeter, paramilitärischer Gruppen kommen werde, die sich beide den Zugang zu den Buchten unten an der Küste sichern wollten, um so besser Drogen schmuggeln zu können.

Daraufhin seien die Campesinos für einen Monat aus dem Tal geflohen, sie hätten viel Vieh verloren, aber ihr Leben gerettet. Denn die Kämpfe seien tatsächlich sehr heftig gewesen.

So sei das hier bei den Taimara, sagt Carlos. Eigentlich sollte und all das Fermín erzählen, ein Freund von Carlos und Tairona. Kein Schaman, aber immerhin ein lider. Der habe auch einen viel größeren, sagt Carlos und kichert. Fermín habe den größten hier in der Gegend. Den größten poporro, sagt er prustend und bekommt sich kaum wieder ein. Aber gerade an diesem Tag geben es ein Treffen aller lider und daher könne Fermín leider nicht kommen.

Dann entschuldigt sich Carlos nochmal bei uns, dass er uns so lange mit seinen Geschichten belästigt habe. Aber das sei ihm halt wichtig. Bevor wir unsere müden Beine in unter die Moskitonetze über den Holzbetten schieben dürfen, muss er eins noch loswerden.

Der poporro und der darin steckende Stock hätten für die Tairona noch eine zweite Bedeutung. Ob wir uns vorstellen könnten, welche? Alle schütteln die müden Köpfe. Die Kalabasse, sagt Carlos und kichert wieder sein Kleine-Jungs-Macho-Giggeln, stehe für die Frau und der Stock für den Mann.

Zeit ins Bett zu gehen. Auch weil wir um 5.30 Uhr wieder aufstehen, um die sechs bei sieben Stunden Wanderung zu bewältigen.

Bergauf.

Bergab.

Mit Schweiß, der aus den Haaren auf die Stirn regnet, auf die Nase tropft, das Kinn und bis hinab auf die Schuhe. Der dich fertig macht.

So sehr, dass du dir wünscht, jetzt ein paar Kokablätter zum Kauen zu haben. Und etwas Muschelkalk. Oder wenigstens einen poporro, von dem man ablesen kann, wie weit es noch ist.

Bis ganz oben.

Und dann.

Wieder runter.

Ins Tal.

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