grimo auf reisen

die welt liegt uns zu füßen

Cochabamba – arm und reich, Schlangen und Huete

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Jetzt bin angekommen. Raus aus La Paz, wo mich die Geschichte mit dem bloeden Polizisten einfach nicht mehr losgelassen hat. Und runter nach Cochabamba. Wobei runter natuerlich relativ ist. Die Stadt liegt immerhin auch noch 2.600 Meter ueber dem Meeresspiegel, also nur knapp unter der Zugspitze, um mal den einzig moeglichen Vergleichspunkt in Alemania zu nennen.

Acht Stunden Busfahrt erst durch das schier unendliche Hochland, in dem kaum mehr als kniehohe Grasbueschel wachsen, dann in Serptinen runter und wieder rauf und schliesslich ganz runter – dann war ich hier.

Schon bei der Einfahrt in die 600.000-Einwohnerstadt wird klar: das ist was anderes als La Paz. Die Menschen am Strassenrand sind sichtlich in Feierlaune. Ueberall sitzen sie am Sonntagnachmittag in einer Art Biergarten. Mehrfach faehrt der Bus an  Blasmusikkapellen vorbei. Selbst die Fahrgaeste im Bus sind schon nicht mehr so grossstaedtisch. Ein aelterer Mann reist mit seinem Papagei, ein kleines Maedchen fuehrt ein Lamm an der Leine mit.

Auch die Architektur ist hier anders. Zwar sieht man auch hier ueberall halbfertige Haeuser. Aber anders als zum Beispiel in El Alto wird hier offensichtlich mehr zu Ende gebaut. Und die Haeuser haben Balkone, Erker, Tuermchenzimmer,es gibt mehr als nur rechte Winkel und Daecher – Schraegdaecher mit Ziegeln! Das ist wohl der groesste Unterschied. Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass es hier oefter regnet als in La Paz.

Wie zum Beweis meiner Theorie baeumt sich ueber der Stadt ein gigantischer Regenbogen. Und als der Bus am randvoll mit Reisenden gestopften Busbahnhof ankommt, prasselt es vom Himmel. Heftig, aber nur kurz. Schon den Weg zum naheliegenden Hostel ueberstehe ich fast trocken.

Die Stadt ist wunderbar. Als erstes faellt eine der schoensten Leistungen des Kolonialismus ins Auge. Die zentrale Plaza mit vielen, Schatten spendenden Baeumen in der Mitte und Kolonadengaengen rundum. Und dann ein gewisser Wohlstand.  Einerseits. Und die unuebersehbare Armut andererseits. Das soziale Gefaelle geht hier von Norden nach Sueden. Im Norden stehen schicke Villen, zwischen sicherlich auch nicht ganz billigen Wohntuermen. Im Sueden tobt das Leben in dem gigantischen, staubigen Strassenmarkt La Cancha, der aus tausenden kleinen Staenden besteht, zwischen denen auch noch die mobilen Haendler ihr jeweiliges Angebot feil bieten. Es gibt Obst und Gemuese, Schraubenzieher und Bohrmaschienen, Jeans  und erotische Dessous, Fisch und Fleisch, DVDs und Schuhe und einen halben Strassenzug lang riecht es nach frischem Gummi – hier haben Fahrradhaendler ihre Staende.

Davor gibt es Essensstaende. Meist von Frauen in den traditionell knielangen Roecken und den haeufig fast wie Spitze anmutenden Jaeckchen betreut, die anders als in La Paz hier aber nur selten den schwarzen Bowler oben auf ihrem Kopf thronen haben. Stattdessen tragen die hiesigen Damen sehr huebsche, weisse Sombreros mit sternfoermigen Lochmustern und einem bunten Hutband, an dem hinten ein bis drei sehr bunte Blumen befestigt sind. Da sei die typische Tracht der hiesigen Campesinos, also der Menschen aus dem umliegenden Doefern, erklaert mir einer Frau, die ich nach ihrem Hutschmuck gefragt habe. Jedes Dorf habe seine eigene Tradition, was die Zahl der Blumen angehe. Und die Huete wuerden aus Pancha hergestellt. Was das ist? Keine Ahnung. Muss ich bei Gelegenheit mal nachschauen.

Je weiter man zurueck in die Innenstadt kommt, desto weniger Weisshuetige trifft man. Stattdessen nehmen die „westlich“ Gekleideten ueberhand. Und im Bankenviertel sogar die Menschen mit Businessdress. Die Herren im Anzug (bei dem Wetter gern auch ohne Jackett), die Damen im Hosenanzug und mit hohen Absaetzen (auch wenn ich keine Ahnung habe, wie sie sich auf diesen loechrig, holperigen Buergersteigen bewegen koennen).

Auf der Plaza 14 Septiembre im Herzen der Stadt mischt sich dann alles. Ein Militaerkappelle, die mit Tschingderassabumm ihre Runde macht und dann per LKW abtransportiert wird. Zwei blinde Musiker, die mit Gitarre und Trommel unter den Arkaden die wesentlich schoenere Musik machen (Video folgt, wenn ich wieder in Alemania bin). Jede Menge Glaeubige, die auch an einem Montag die anliegende Kirche zur Mittagmesse zu zwei Dritteln fuellen. Zeitungshaendler, Strassenclowns und viele, viele Menschen, die einfach nur auf einer der Parkbaenke sitzen.

Zum Beispiel Denys, der mich anspricht, kaum dass ich neben ihm Platz genommen habe. Er studiert Tourismus – und wenn er den Enthusiasmus, mit dem er mir die Schoenheiten seiner Stadt und seiner Region anpreisst, nur zur Haelfte in seinem spaeteren Berufsleben umsetzen wird, kann eigentlich nichts schief gehen. Er empfiehlt mir zum Beispiel einen Ausflug in die nahe gelegene Kleinstadt Tarata, den ich mir nun fuer morgen vorgenommen habe. Und unbedingt soll ich von hier aus noch die dreistuendige Fahrt in ein kleines Staedtchen unten im Regenwald und Koka-Anbaugebiet machen. Das hab ich jetzt mal fuer uebermorgen eingeplant. Aber mal sehen, was noch so kommt.

Auch auf der Plaza stehen Stellwaende, auf denen die Seiten der heutigen Zeitungen angepinnt sind. Das ist keineswegs eine Aktion der hiesigen Verlage, sondern eine Initiative der hiesigen Basis der linken Regierungspartei MAS. Denn, so steht es ueber einer Stellwand: nur ein gut informiertes Volk kann dem Kapitalismus widerstehen! Die Artikel finden zahlreiche Leser. Mag sein, dass das immer so ist, oder auch weil hier heute ein einziges Thema ueberwiegt: El Dakar.

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Das ist die Ralley, die urspruenglich mal Paris-Dakar hiess, weil sie in dem einen Ort startete und in dem anderen endete. Seit die Ralley aber vor neun Jahren nach Suedamerika verlegt wurde heisst sie nur noch nach ihrem einstigen Zielort: El Dakar.

In diesem Jahr fuehrt sie erstmals auch durch Bolivien. Gestern kamen die Fahrer von Argentinien bis nach Uyuni, heute sind sie von dort weiter nach Chile gebrummt. Glaubt man den hiesigen Zeitungen, die mit bis zu 20 Sonderseiten berichten, handelt es sich um ein nationales Ereignis. Zehntausende haben an der Route gestanden und die Fahrer mit bolivianischen Flaggen bejubelt.  Vor allem natuerlich die beiden bolivianischen Fahrer. Der eine brach am Zielort in Traenen aus. Der andere stoppte unterwegs, um seine Fans per Handschlag zu begruessen und konnte dann erst weiterfahren, als die Polizei ihn aus dem Trubel befreite. Insgesamt soll es eine sehr langsame Etappe gewesen sein – weil zu viele Menschen am Wegesrand  standen. Aber Geschwindigkeit war diesmal wohl Nebensache.

Zweites grosses Thema in den Zeitungen: die langen Schlangen vor Schulen und Kindergaerten, die heute tatsaechlich ueberall unuebersehbar waren. Denn heute war der erste Tag fuer die Einschreibung fuer die freien Plaetze im neuen Schuljahr. Laut Zeitungsberichten sollte das in diesem Jahr erstmals ohne stundenlanges Anstehen der Eltern klappen. Aber das hat offensichtlich nicht funktioniert. Zum einen weil der Systemwechsel offenbar erst vor wenigen Wochen beschlossen und laengst nicht ueberall umgesetzt wurde. Zum anderen, weil die Menschen nicht darauf vertrauen, ohne Anstehen einen Platz zu bekommen. Denn wenn man das im rein schriftlichen Verfahren irgendeiner Verwaltung ueberlaesst, dann geht das ja nur mit Korruption, oder?

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Zum Glueck wird in Zukunft ja alles besser. Am „buen vivir“ – am „guten Leben“ – arbeitet die Regierung unter dem linken Praesidenten Evo Morales seit Jahren. Der Weg zum Glueck fuehrt hier allein ueber die Ueberwindung des Kapitalismus. Das wissen die Cochabambinos besser als viele andere. Denn hier sollte Ende der 90er Jahre auf Draengen der Weltbank die oertliche Wasserversorgung privatisiert werden. Das stiess auf heftigen Widerstand. Die Menschen begannen schliesslich sogar „illegal“ eigene Brunnen zu graben. Das ganze ging nicht nur als „Wasserkrieg“ in die Geschichte des weltweiten Kampfes gegen die Neoliberalismus ein. Es war auch ein erster Erfolg der Linken, der spaeter zur Wahl von Evo Morales fuehrte.

Und damit das nicht vergessen wird, laedt die Basisbewegung jeden Tag um 12 und um 18 Uhr zum Informationsgespaech auf die Plaza. Am Abend lauschen rund 20  Maenner den Erlaeuterungen eines jungen Aktivsten. Er spannt einen weiten Bogen von den spanischen Kolonisatoren, die die Indigenas nur fuer Tiere gehalten und entsprechend  behandelt haben, bis hin zu den kapitalistischen USA, die heute die Amazonasregion privatisieren wollten. Die Kapitlisten, sagt er, haetten immer Hitler kritisiert, dabei haetten sie bis heute viel mehr Menschenleben auf dem Gewissen, als der. Nun ja, Hitler-Vergleiche sind immer sehr problematisch. Auch die handschriftlich auf einer der Stellwaende angebrachte Forderung „USA raus aus Syrien“ hinterlaesst Fragezeichen.

Ansonsten leistet der junge Mann klassische Bildungsarbeit. Er verteilt an die Umstehenden Karten, auf denen Begriffe wie „Aymara“, „das Massaker von Puncho“ oder „Die Revolution 1952“ stehen und laesst dann den jeweiligen Karteninhaber erzaehlen, was er darueber weiss. Nicht um sie mit ihrem Nichtwissen vorzufuehren, sondern um ihnen im Zweifelsfall sachkundig auf die Spruenge zu helfen. Wer will darf sich dann noch Broschueren von seinem kleinen Stand mitnehmen, der ein wenig aussieht wie der Tapetentisch studentischer Aktivisten in Deutschland in den 80er Jahren vor irgendeiner Mensa. Es gibt eine Broschuere mit den 13 Punkten der Agenda 2025 von Evo Morales,  Texte ueber Anarchismus, ueber den Wasserkrieg und Raubkopien diverser Romane von Isabel Allende. Was ausgerechnet die hier machen? Keine Ahnung.

Ein paar Meter weiter macht ein Strassenclown seine Witze. Er hat ein Mikrophon und deutlich mehr Zuhoerer. Aber die muessen ja auch nur lachen und werden nicht nach ihrem politischen Wissen gefragt.

Fuer heute steht jetzt nur noch eine Entscheidung an: welches der beiden mir empfohlenen  Restaurants mit lokaler soll ich besuchen?

4 Responses to “Cochabamba – arm und reich, Schlangen und Huete”

  1. Puh, so viel Geschichte(n) und Politik am „späten Abend“ … Ich glaube, ich sollte langsam mal schlafen.
    Ich wünsche Dir eine gute Nacht 🙂

  2. herr grimo sagt:

    Na dann, schlaf gut! 🙂

  3. […] reden wir ueber Gott und die Welt, Schulsysteme hier und dort, die gestern von mir gesehen Schlangen wartender Eltern vor den Schulen, boese Polizisten in La Paz und lohnende Ausflugsziele wie Villa […]

  4. […] Klassische Backpacker-Hostels gibt es in Cochabamba nicht. Ich bin im Hostal Versalles gelandet, das kaum 300 Meter vom Busbahnhof an der Av. Ayacucho […]

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