grimo auf reisen

die welt liegt uns zu füßen

Whitebuzz + Heads @ Bei Ruth

Das ist hier die dritte Welt. Die erste vorn am Eingang der Ziegrastraße ist das Estrel, dieses Gebirge von Hotel hinter dem S-Bahnhof Sonnenallee am Ende von Neukölln. Dahinter wir gerade die Autobahn A100 gebaut, davor stehen ein paar einsame Raucher neben dem Taxistand.
Die zweite Welt wird von jungen Türken bevölkert. Aufgebrezelt bis zum geht nicht mehr, schicke, gut sitzende, aber lässige getragene Anzüge hier, modisch kurze, nachtblaue Kleider zu onduliertem Haar dort, stehen sie in Massen am Eingang zu einem Gewerbehof. Ist das jetzt ein Hochzeitsgesellschaft oder übliches Clubvergnügen am Wochenende in diesen Kreisen? Keine Ahnung. Oben hinter den Fenstern im ersten Stock des Gewerbebaus sind geschwungene weiße Vorhänge zu sehen. Satocity heißt der Club laut Aushang und es ist klar, ich muss noch weiter.
Weiter in die dritte nächtliche Welt hier an der Ziegrastraße, auch nicht über den Hof, auf dem ein paar Autoschrauber vor ihrer Werkstatt grillen, sondern noch einen Hofeingang weiter, dort wo netterweise ein kleines Hinweisschild steht: Bei Ruth!
Der Club liegt am Ende des Hofes, links in dem Fabrikgebäude, ganz oben im dritten Stock. über die Treppen, in denen viele Kacheln der gefließten Stufen fehlen, erreicht man einen langgestreckten Raum. Auf der einen Seite weiße Ziegel, auf der anderen große Fenster, die einen Ausblick Gewerbegebiet rüber zum Estrel bieten. Hinten ein aus Brettern zusammengenagelte Bar, mit freundlichen Menschen, einem bemalten FDP-Wahlplakat und dem üblichen Flaschenbierangebot. Am anderen Ende eine kleine niedrige Bühne, die vom Backstagebereich durch senkrechte Holzpaletten getrennt ist.
Davor junges Volk, die Herren gern mit zotteligen Bärten, auf deren Länge jeder Dschihadist neidisch wäre, die Damen mit „Man made Monster“-Aufnäher auf der Jeansjacke oder der Aufforderung „let’s bring the city life!“ auf dem ärmellosen Shirt. „Krass, dieser Arm!“, sagt eine junge Frau zu ihrer Freundin und deutet auf den Typen, dessen Arm bis hinunter zur Hand mit einem flächig geometrischen Muster tätowiert ist.
Auf der Bühne, zwei Bands, Trios jeweils, Gitarre, Schlagzeug, Bass. Und was für ein Bass! Gäbe es einen Wertbewerb im Bass-ganz-tief-Spielen, die beiden Bassisten lägen ganz weit vorne.
HEADS, eine Berliner Noiseband, sollte laut Ankündigung „a mutual love of noise, angst, dirt and cacophonous filth“ spielen. Und das traf es dann schon ganz gut. Bei den beeindruckenden Schreien des Sängers musste man sich ständig Sorgen um dessen Stimmbänder machen, und der Sound mit stolpernd treibendem Beat war groß.

Die zweite Band, Whitebuzz aus Hannover, war als Doom und Stonerrock angekündigt, unterschied sich von der ersten aber vor allem durch die überbordende Länge der Songs mit komplexen Strukturen, die sich zu Soundgebirgen aufstapelten, auf denen die Musiker hin und her wogten, bis alles nicht mehr zu halten war und unter großem Getöse zusammenbrach. Und das alles keineswegs auf Speed, sondern mit teils zeitlupenhafter Gelassenheit.

Das Publikum schüttelt verzückt sein Haar durch die verrauchte Luft. Eine junge Frau trägt Wollmütze über ihren mit Papiertuchstöpseln lärmgeschützten Ohren. Draußen wird es gerade rasend schnell Herbst. Doooom!
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Vor  20 Jahren wurde solche Clubs wie das Bei Ruth noch in Mitte gegründet. Einige wenige wie etwa der Schokoladen, haben sogar überlebt. Aber um neue zu starten muss man heute fast an den Stadtrand. Das kann man bedauern. Aber immerhin gibt es noch Leute, die sich den Arsch aufreißen für so einen Club – auch wenn er am Ende von Neukölln liegt, in der dritten Welt da hinten an der Gewerbestraße neben der Auotbahnbaustelle. Ja, das sagt viel über die Entwicklung Berlins aus. Aber man darf auch nicht vergessen: als  nach dem Mauerfall all die Clubs in der östlichen Innenstadt entstanden, da galt auch diese Gegend für viele noch tatsächlich als Arsch der Welt.

 

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