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Santa Elena: Paz y Amor

Darf ich vorstellen: Uriel Benjumea, Erfinder des Karnevals der Kulturen in Berlin. Behaupte ich zumindest immer gerne. Denn Uriel hatte die Idee für den wahrscheinlich ersten latino-multikulti Strassenkarneval in Berlin, im Sommer 1994.

Der Kolumbianer war 1992 oder 93 mit einer chilenischen Theatergruppe nach Berlin gekommen, die dort „Popol Vuh“ aufführte, die Legende vom Menschen, den Gott aus Mais geschaffen hat.

Uriel landete dann in der damals besetzen Kastanienallee 77 und blieb einfach. 1994 hatte er die Idee ein Latino-Theaterfestival zu veranstalten, teils in der Kulturbrauerei und teils im Stall auf dem dritten Hof der K77, wo u.a. Die Theatergruppe der Berliner AIDS-Hilfe das schwulste Schneewittchen aller Zeiten aufführte, das ich mir mit der damals 9-jährigen Louisa anschaute, die daraufhin viele Fragen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zum Abschluss des zweiwöchigen Festivals wollte Uriel unbedingt einen Strassenumzug machen, einen Carnevalito, mit Musik und Tanz und bunten Kostümen. Und weil das als Kulturveranstaltung eines wochenlangen Genehmigungsprozesses bedurft hätte und zudem horrende Straßenbenutzungsgebühren fällig geworden wären, haben wir dann damals kurzerhand eine Demo für die internationale Völkerverständigung angemeldet und sind schließlich mit freundlicher Begleitung der Polizei stundenlang durch Prenzlauer Berg getanzt – lange bevor der Karneval der Kulturen ähnliches im großen Stil in Kreuzberg umsetzte.

Nach ein paar Jahre in Berlin zog Uriel mit seinem damaligen, deutschen Freund nach Medellin. Und dort steht er nun am Terminal de Norte, am modernen Nordbusbahnhof um mich abzuholen.

Wir fahren mit der auf Betonstelzen durch die Millionenstadt brausende Metro ins trubelige Zentrum, wo Uriel mich nahezu als erstes in die große zentrale Bibliothek führt, in der es neben Büchern, kostenlosem Internet, Videos, Zeitungen, Kulturprogramm und Klimaanlage auch Kaffee gibt.

Uriel schätz diesen Ort besonders, denn er ist gleichzeitig auch eine Art Coworking Space. Es gibt Sitzgruppen mit Sesseln und Tischen, an denen er sich gerne mit Kolleginnen trifft, wenn er hier in der Stadt eine Arbeitsbesprechung hat.

Wichtiger ist ihm aber noch, dass der Staat solche Bibliotheken nahezu in allen Stadtvierteln eingerichtet hat, als Teil eines sozialdemokratischen Bildungsprogrammes, das auch den vielen Ärmeren den Zugang zur Kultur gestattet, deren Wohnviertel sich die steilen Berghänge im Osten und Westen der Stadt hochstapeln.

Nach einem kurzem Rundgang durch die quirlig vollen Strassen der City, die vor allem laut und lebendig ist, aber alles andere als schön, fahren auch wir die Berge hoch – mit dem Minibus nach Santa Elena, einem schon jeweils der Bergkette weit über Wiesen und Wälder gestreuten Dorfgemeinde. Nach einer Stunde erreichen wir erst den Ableger Barro Blanco und dann wiederum El Rosario, den Ableger vom Ableger, wo Uriel ein kleines, sehr einfaches, aber auch sehr schön gelegenes Haus hat. Weil es hier ruhig ist, entspannt – und die Luft um Klassen besser ist, ist Uriel vor sechs Jahren hier hoch gezogen.

Das Dorf hier, sagt Uriel, sei ein ganz klein bisschen so, wie damals die Kastanienallee. Hier leben viele Künstler und Kreative. Und es kämen entsprechende Besucher aus der ganzen Welt.

Hinter dem Häuschen bauen wir am Abend das kleine Zirkuszelt auf. Denn Uriel macht nach wie vor Theater. Hier im Dorf oder in der Stadt, im Zirkus, auf der Straße oder auch auf Bühnen. Als reine Kunstinszenierung, als Kindertheater oder immer wieder auch im Rahmen von zahlreichen Sozialprojekten, sei es mit gewalttätigen Kindern aus den Armenvierteln, sei es zur Vermittlung zwischen kriminellen Banden, oder bei Projekten mit Prostituierten. Sechs Jahre lang hat er als eine Art Sozialtheaterdagoge im Gefängnis gearbeitet – häufig mit inhaftierten Paramilitärs. Ein andermal war er mit einer Strassentheatergruppe in einem der „Problemviertel“, in dem es unsichtbare, aber klar definierte Grenzen zwischen den Herrschaftsgebieten verschiedener krimineller Banden gibt, die niemand überschreitet, außer Uriel mir seiner Stelzenläufergruppe.

Sein neustes Projekt setzt sich mit den Begriffen Legal/Illegal auseinander. Nicht auf irgendeiner Metaebene, sondern ganz praktisch. Denn er will den Menschen vermitteln, was eigentlich ihre Rechte sind und wie sie diese durchsetzen können.

Das ist nicht erst im jetzt anlaufenden Friedensprozess mit der Guerilla, sondern auch bei der Reintegration der einstigen Paramilitärs und der immer noch bestehenden kriminellen Banden wichtig. Denn alle drei sind nicht nur Verursacher von Mord und Totschlag, sondern in den von ihnen beherrschten Gebieten auch immer diejenige, die für Recht und Ordnung gesorgt haben – wenn auch in ihrer jeweils sehr eigenwilligen Interpretation.

So würden – anderes als die Guerilleros, die bei „Gesetzesverstößen“ manchmal etwa Diebe dazu verurteilen, nicht nur den Schaden zu ersetzen, sondern etwa im Haus des Bestohlenen Strafdienste zu leisten – kriminelle Banden und auch Paramilitärs kein Pardon kennen und selbst einfache Diebe schlichtweg erschießen.

Nun müssen die Menschen erst lernen, dass sie künftig auf eine Regelung durch staatliche Institutionen setzen sollen. Was doppelt schwer sei, sagt Uriel, weil Polizei und Justiz in einigen Stadtvierteln und vielen ländlichen Gebieten einfach nicht anwesend waren. Und weil zudem das Vertrauen in den Staat äußerst niedrig ist – auch wegen der allgegenwärtigen Korruption.

Genau da setzt Uriel mit seiner Arbeit ein, denn er ist ein glühender Anhänger des Friedensprozesses. In den großen Städten, sagt Uriel, mag es vielen so erscheinen, als habe sich das Problem Guerilla längst erledigt, schon weil es in den letzten Jahren kaum noch Anschläge gegeben habe. Aber das liege keineswegs daran, dass die Guerilla geschlagen sei. Im Gegenteil, sie habe seiner Meinung nach immer noch bestimmt 10.000 Menschen unter Waffen und halte sich während der Friedensverhandlungen in Havanna, die in zwei Wochen enden sollen, nur zurück.

Auch die von vielen hier gelobte Politik der harten Hand des einstigen Präsidenten Uribe, der mit tatkräftiger, finanzieller Unterstützung der USA die Guerilla brutal bekämpft und zurückgedrängt hat, sieht Uriel äußerst kritisch. Zum einen habe er es ja eben nicht geschafft, die Guerilla in seiner achtjährigen Amtszeit zu besiegen. Und zum anderen werde schnell vergessen, dass in diesen acht Jahren mehr Menschen getötet wurden, als in den 50 Jahren Bürgerkrieg zuvor – und zwar nicht durch Guerilla oder Paramilitärs, sondern durch den Staat.

Der seit sechs Jahren regierende Präsident Santos, der den Friedensprozess eingeleitet hat, habe allerdings ein ganz anderes Problem, sagt Uriel. Er sei einfach zu leise. Anders als sein laut polternder Amtsvorgänger, der gern mal ein Exempel statuierte und Leute mit Pauken und Trompeten feuerte, ist Santos ein Mann des Ausgleichs, der erstmal zuhört und die üblichen Beleidigungen ignoriert anstatt sie mit großer Geste zurückzuweisen. Uriel findet das prinzipiell gut, allerdings treffe Santos damit nicht den Geschmack der Kolumbianer. Die wollten einfach mehr Drama, so wie in den Telenovelas.

Dennoch geht er davon aus, dass wenn es wie von Santos angekündigt zur Volksabstimmung über den Friedensvertrag mit der FARC kommen sollte, eine große Mehrheit dafür stimmen werde. Vielleicht nicht in den Großstädten, aber sicherlich auf dem Land, wo Frieden der einzige Ausweg sei.

Denn zum einen könne man die Zehntausenden, die sich schuldig gemacht hätten, gar nicht alle ins Gefängnis stecken, das könne sich ein Staat wie Kolumbien shon finanziell gar nicht leisten. Zum anderen würden nur die Menschen in den Städten, für die der Krieg fern war, auf Bestrafung bestehen. Für die Menschen auf dem Land aber, für die Krieg und Gewalt Alltag waren, gehe es darum, nach vorne zu schauen.

Uriel brät ein paar Arepas in der Pfanne, diese trockenen Fladenbrote, die man hier zu allem isst, stellt Granadillas, diese äußert lecker sauren Früchte mit dem körnigen Schleim innendrin auf den Tisch, macht Saft aus Physalis, die bei ihm im Garten wachsen und erzählt dann beim Frühstück eine Geschichte von tausenden ähnlichen, die er bei seiner Arbeit erlebt hat.

Einmal hat er in einem Dorf eine alte Frau kennengelernt, deren Tochter von den Paramilitärs umgebracht wurde, weil sie eher alternativ war und damit in den Augen der extrem Rechten eine Kommunistin. Sie wurde nicht nur getötet, ihre Leiche wurde in viele Teile zerstückelt und in verschiedenen Löchern verscharrt. Ein Vorgehen, dass selbst für die Mörderin anscheinend kaum zu verkraften war. Sie wurde drogenabhängig und obdachlos.

Die Mutter der Toten wollte immer wissen, warum ihre Tochter getötet wurde und verlangte nach der Wahrheit. Eines Tages kam die Mörderin, verwahrlost und heruntergekommen zum Haus der alten Frau und bat sie um etwas essen. Da lud die Frau die Mörderin ins Haus, lies sie duschen.

Als ihre Enkelin nach hause kam, sah sie die Frau im Bad und beschimpfte ihre Großmutter. Wie kannst du diese Frau ins Haus lassen?, fragte die Enkelin entsetzt, sie ist die Mörderin meiner Mutter!

Die Großmutter aber sagte, was nützt es mir, diese Frau zu bestrafen. Wenn wir vom Frieden reden wollen, dann müssen wir vor allem wissen, was geschehen ist. Und dann nach vorne schauen.

In einem anderen Dorf, erzählt Uriel, wurden Mann und Sohn einer Frau getötet. Der Mörder, das wussten alle, lebte in der selben Straße. Irgendwann klopfte er an der Tür der Witwe und sagte, ja, ich habe deinen Mann und deinen Sohn getötet, aber es war nichts persönliches, es war die Politik. Er fragte, ob sie ihm verzeihen könne. Sie bat ihm um Zeit. Schließlich habe sie seine Entschuldigung angenommen, erzählt Uriel, und sich dann so leicht, so befreit gefühlt wie lange nicht mehr.

Genau auf diesem Konzept beruht auch der angestrebte Friedensvertrag zwischen Regierung und der FARC-Guerilla. Es geht vor allem darum, dass Schuldige sich zu ihren Taten bekennen, dass Angehörige erfahren können, was aus ihren verschwundenen Familienmitgliedern geworden ist, wo sie begraben wurden. Es geht ums Verstehen. Eine Bestrafung der Täter ist keineswegs ausgeschlossen, aber sie soll eher symbolisch ausfallen.

Abends kramt Uriel einen Anstecker aus einer Schublade. „No porto armas porque tu vida vale“ steht da über einer durchgestrichenen Pistole. Ich trage keine Waffen, weil dein Leben zählt.

„Frieden“, sagt Uriel auf deutsch, „Frieden ist meine große Liebe“.

One response to “Santa Elena: Paz y Amor”

  1. […] in Santa Elena bringen die Blumenbauern ihre Ernte auf großen Rückengestellen ins im Tal liegende Medellin. Aus […]

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