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Adieu, altes Haus: Nachruf auf die Invalidenstraße 1

Einen Dachschaden hatte es schon lange. Warscheinlich seit 1945, Kriegsinvalide. Man muss sich nur die Gegend anschauen, dann hat man es vor Augen. Die Flieger müsssen von Nordwesten gekommen sein. Die erste Bombe traf die Elisabethkirche, die dann 50 Jahre eine Ruine ohne Dach, aber mit wildem Garten im Innenraum blieb, bevor sie saniert wurde. Die nächsten zerstörten die Häuser Elisabethkirchstraße 2 und 3 auf der anderen Straßenseite. Dann ging es weiter zur Kreuzung Brunnen-, Invalidenstraße. Auf der Südwestecke: alles weg. Da steht seit den 80er Jahren die Polizeiwache, ein Plattenbau aus DDR-Zeiten, seit der letzten Renovierung mit der roten und der schwazen Front. Auf der Südostecke: erst recht alles weg. Anstelle der einstigen Häuserzeile findet man heute den Weinbergspark_. Und auf der Nordwestecke: die Invaliden 1.

Invalidenstr. 1, 2012

Screenshot aus dem Video Berlinfolgen

Die Invalidenstraße 1 hat es nicht ganz weggehauen. Nur das Dach. Und das oberste Stockwerk. Erdgeschoss und die zwei Etagen darüber aber hatten den Krieg überstanden. Schön war das Haus nicht, so wie es da mit dem flachem Notdach über den graubraunen Fassaden an der Ecke der vielbefahrenen Kreuzung stand, immer die vorbeirumpelnden Straßenbahnen im Blick.

Ob da drin überhaupt noch jemand gewohnt hat? Keine Ahnung. Sicher jedenfalls schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Nur die Läden unten wurden noch genutzt. Zum Teil zumindest. Da war zum einen dieses aus der Zeit gefallene Kurisorum: der Kunststoffe-Laden. Das Schaufenster des Eckladens sah aus, wie eine Hippe-Mitte-Installation. Ein Tisch, Plastikdecken, ein  roter Stuhl, Plastikenten, Plastikgeschirr. Aber das war keine Kunst, sondern tatsächlich genau das, was man dort kaufen konnte.

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Screenshot: auguststrasse-berlin-mitte.de

Nur geöffnet hatte das Geschäft fast nie, zum Schluss selbst laut Aushang nur noch wenige Stunden an wenigen Tagen in der Woche. Drin gesehen habe ich eigentlich nie jemanden. Ende 2010, also vor fast fünf Jahren schon, wurde das Unikat geschlossen. Weil das Haus abgerissen werden sollte. Seither waren die Schaufenster mit Plakaten zugeklebt, die für Konzert oder andere Veranstaltungen warben.

Noch früher vor dem Aus stand der Foto-Shop, eine Fotogalerie in einem winzigen ehemaligen Schreibwarenladen, links vom Kunststoffe-Handel. Der Raum war so klein, dass man sich kaum zwischen den fest eingebauten Holzregalen drehen konnte, dafür ging es oben im ersten Stock noch weiter. Bei den Vernissagen drängelte sich das Volk meist auf dem Bürgersteig davor. Drinnen war eh kein Platz.

Und Anfang 2007 war dann auch für die Kunst kein Platz mehr. Die Subkultur-Galerie musste umziehen. Ihr kompletter Inhalt wurde damals zum Kauf angeboten. In dem Angebotsschreiben kann man nicht nur die gigantisch winzigen Maße der Galerie nachlesen (Ladenfläche: 11,5 qm; Hinterraum: 4 qm; 1. Stock: ca. 15 qm; Raumhöhe Parterre: 2,50 m; Raumhöhe 1. Stock: 1,90) sondern auch die Geschichte des Kunstprojektes und des Hauses. Und schon damals hieß es, das ganze Haus werde abgerissen: im Jahr 2007. Neu bauen wollte eine Fininvest, die angeblich mit dem italienischen Politiker Silivo Berlusconi verbandelt war.

Der Foto-Shop zog weiter in eine leerstehende Wohnung im ersten Stock der Brunnenstraße 11 – und ist da längst wieder rausgeflogen, weil dieser Altbau vor einigen Jahren saniert wurde.

Doch die Invalidenstraße 1 gammelte weiter leer vor sich hin.

Dass der Abriss näher rückte, konnte man im Jahr 2012 in einem Teil der Videoreihe berlinfolgen auf taz.de sehen. Da portraitierte die taz-Kollegin Plutonia Plarre den Wolfram Liebchen, „den Bewahrer“: Der hat an der Lehrter Straße ein riesiges Lager, in dem er verwertbare Baustoffe aus Abrisshäusern lagert und zur Weiterverwendung anbietet. Das Video zeigt, wie er Dielen, Türen und eine Wanne aus der Invalidenstraße 1 ausbaut und abtransportiert.

Mehr tat sich vor Ort nicht. Später hing an der abgeschrägten Ecke zur Kreuzung hin das Banner einer Sanus AG, mit dem Spruch „Wohnen am Puls der Zeit“. Mehrere Jahre flatterte es im Wind. Ich habe das stets als Immobiliensprech für „extrem laute Verlehrlage“ gelesen. Auf facebook kündigte die Sanus AG im April 2013 einen Neubau an, Baubeginn sollte im zweiten Quartal 2013 sein. Aber es tat sich weiter nichts. Vielleicht war der Immobilienwerbespruch doch zu leicht zu durchschauen. Dann hieß es, der Neubau solle bis Ende 2014 stehen. Aber auch daraus wurde nichts.

Erst im Sommer 2015 rückten Bauarbeiter an. Das Haus wurde eingerüstet und die Arbeiter trugen per Hand Stück für Stück und vorsichtig das oberste der verblieben Stockwerke ab. Und dann? Passierte wieder nichts. Die Gerüste verschwanden wieder, die verbliebenen Mauern wurden durch Plastikfolien geschützt. Fast sah es so aus, als ob hier jemand plant, auf den alten beiden Grundgeschossen einen Neubau oben drauf zu setzen. So eine Art Denkmalschutz light.

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Invalidenstr. 1 im Juni 2015

Aber auch das entpuppte sich als Irrtum. Seit ein paar Tagen ist das Haus großräumig abgesperrt. Und heute, am sonnigen 19. Nevember 2015 machte ein Bagger kurzen Prozess. Von dem Haus ist nur noch eine Schutthalde übrig.

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Invalidenstr. 1 am 19.11.2015

Mindestens acht Jahre Leerstand gehen damit zu Ende. Früher hätte man das spekulativen Leerstand genannt. Und heute: trifft der Begriff es immer noch sehr genau.

Denn was kommt da jetzt hin? Die Sanus AG hat das Haus nicht mehr auf seiner aktuellen Projekteliste. Dafür wird es jetzt von einer Firma namens Betropolis vermarktet: die kündigt ein achtgeschossiges, sanft um die Ecke geschwungenes Wohngebäude mit drei Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss an, „in direkter Nachbarschaft des Bundesnachrichtendienstes und des neu entstehenden Kulturstandorts Europacity mit zahlreichen denkmalgeschützten Bauten. Nur wenige Fußminuten entfernt liegen Hauptbahnhof und Charité“. Na ja, bis zum Hauptbahnhof läuft man eher eine halbe Stunde, aber die angestrebte Klientel wird wohl er kaum die Strecke laufen. Prognostizierte  Fertigstellung diesmal: Herbst 2016! Da müssen sich die Arbeiter ganz schön beeilen.

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Screenshot: betropolis.de

Wer sich die Bauentwürfe ansieht weiß: da dürften die Kosten für den langjährigen Leerstand mit eingepreist sein.

Falls das Haus mal fertig wird, werden die neuen Bewohner auf das gegenüberliegende ehemalige Kaufhaus Jandorf blicken. Auch das steht seit über 15 Jahren leer – wenn man mal von der gelegentlichen Nutzung als Eventlocation für hippe Weihnachtsmärkte oder ähnliches absieht.

Auch hier wurde über die Jahre immer wieder neue Nutzungen angekündigt, aus denen nie etwas geworden ist. Nur abreißen wird man dieses Schmuckstück – anders als sein traurig-mausgraues Gegenüber –  hoffentlich nie.

 

 

 

One response to “Adieu, altes Haus: Nachruf auf die Invalidenstraße 1”

  1. […] den dort zuvor abgerissenen Altbau hatte ich vor über einem Jahr schon einen Nachruf in meinem Blog […]

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