Es fing alles mit Hassan an, unserm wortkargen Fahrer bei der Dreitagestour Richtung Wüste. Viel gesagt hat er zwar nicht, bei den stundenlangen Fahrten durch das marokkanische Hinterland, aber er hat die passende Musik gespielt. Diese typischen, gitarrenartige Instrumente mit dem leicht quäkenden Sound, dieser tragend-treibende Rhythmus. Dieser Wechselgesang. Diese schier unendlichen Stücke, acht Minuten. Oder zehn. Je nachdem, wann bei der Aufnahme ausgeblendet wurde.
Was er da auf seinem mp3-Player spiele, wollte ich von Hassan wissen. Er sagte irgendeinen Namen mit R, den ich auch bei dreifachem Nachfragen leider nicht verstanden habe. Nur, dass den hier in Marokko jeder kenne. Und dass Hasan immer wieder mal mitsummt. Einmal klopft er sogar den Beat auf das Amatourenbrett, sagt mit breitem Lächeln: no sleep! Und drückt ein wenig aufs Gas.
Jetzt bin ich in Essaouira und auch hier ist die Musik allgegenwärtig. So richtig immer im Juni, wenn zum jährlichen Gnaoua-Festival Hunderttausende kommen. Jetzt schallt sie nur aus den vielen kleinen CD-Läden, die man an den beiden Haupteinkaufsstraßen findet. einer spielt auch beim dritten Vorbeilaufen so tolle Musik, dass ich reingehen muss.
Hinter dem Tresen sitzt ein Typ mit Basecap, vielleicht Mitte 30. Ich versuche ihm die Musik zu beschreiben, die Hassan immer gespielt hat. Er runzelt die Stirn. Die Wände des kaum vier Quadratmeter großen Ladens sind bis an die Decke voll mit CDs. Ja, es gibt da auch den unvermeidlichen Bon Marley und ein paar andere internationale Klassiker, aber vor allem eben marrokanische Musik – oder zumindest solche aus Nordafrika.
Also wirklich bekannt, meint mein Local-CD-Dealer, sei das hier: „Sinia“ von Nass El Ghiwane. Er legt die CD in den Player und dreht auf. Da zupft jemand offensichtlich auf einer dieser nordafrikanische Bassgitarren rum, dann fällt ein anderer mit dem Banjo ein, es wird getrommelt und schließlich gesungen – mehrstimmig. Das sei ein Klassiker, sagt der Händler meines Vertrauens, „die Beatles von Marokko“. Andere meinen, es handele sich eher um die „Rollings Stones Marokkos“, aber beides weist vor allem darauf hin, dass diese in den 70ern gegründete Band als wegweisend für die moderne, auf klassichen Musikstilen beruhende marokkanische Musik war.
50 Dirham, will mein Dealer, für eine CD. Kauf ich, sage ich. Und frage, was er noch so hat.
Na, zum Beispiel den nächsten Klassiker: den Sampler des diesjährigen Gnaoua-Festivals von Essaouira. Wieder legt er die CD ein und dreht noch ein bisschen auf. Es ist das dritte Stück der CD – „Chalabán“, wobei mir unklar bleibt, ob das nun der Songtitel oder der auf dem Sampler vertretene Interpret ist. Egal, diese bassgitarrenartige Instrument dengelt gleich von Beginn an so richtig los.
Kauf ich, sage ich. Und frage, was er noch so hat.
Er empiehlt mir noch die CD „In The Heart Of The Moon“ von Ali Farka & Toumani Diabaté, ein Projekt von zwei Musikern aus Mali und gerät dann bei „AsFar“ von Le Trio Joubran, einer Band von drei palästininsischen Brüdern, die alle das Zupfinstrument Oud spielen, richtig ins schwärmen. Das sei das Beste, wenn es um Oud-Musik gehe, was auf der Welt bekommen könne, meint er. Allein das 15-minütige, düster hypnotische Titelstück, rechtfertig diese Schwärmerei.
Kauf ich, sage ich. Und nochmal: Kauf ich.
Erst bei seiner letzten Empfehlung, dem Debut-Album „mouneissa“ von der ebenfalls aus Mali stammenden Sängerin Rokia Traoré kann ich mich bremsen. Allerdings auch nicht völlig. Nachdem mich ihre Stimme in den kommenden zwei Tagen aus nahezu jedem Plattenladen verfolgt hat, kaufe ich auch noch diese CD, bei dem Händler meines Vertrauens, der mich nun schon mit freundschaftlichem Handschlag begrüßt und mir schnell noch erzählt, dass er den kleinen Laden jetzt seit 15 Jahren hat und dass er früher auch mal als DJ gearbeitet hat – er zeigt auf ein Foto an der Wand, dass ihn in etwas jünger zeigt.
Mit den ganzen CDs im Koffer gibt es endlich einen Grund wieder nach hause zu fliegen, damit ich die Musik in voller Länge genießen kann. Vorher würde ich gern aber noch ein wenig Live-Musik hören. Zwar hat mein DJ-Freund keinen passenden Tipp zur Hand, aber ich habe dennoch Glück.
Am letzten Abend komme ich zufällig an dem kleinen Restaurant Ramses vorbei, das laut großem Aushang nicht nur Cuisine Marocaine verspricht, sondern auch Live Music. Die Küche ist schon mal fantastisch, ich nehme karamelisiertes Hühnchen mit Rosinen. Noch besser aber ist die Musik. Denn hier wird tatsächlich Gnaoua gespielt. Direkt neben mir hockt ein junger Mann mit diesem Instrument, bei dem drei Saiten über einen langgestreckten Körper gespannt sind, und das einen wunderbaren, sehr eigenen und sehr tiefen Sound hat. Das sei die allererste Bassgitarre überhaupt, bekomme ich mehrfach erzählt, nur den Namen des Instruments verstehe ich nie und muss ihn später googeln. Es handelt sich um eine Gimbri.
Amir, so heißt der junge Gimbri-Spieler, wird mal von zwei, mal von drei, mal von vier Leuten begleitet, die entweder mit den metallenen Handklappern einen scheppernd-treibenden Beat produzieren. Oder mit einfachem Händeklatschen, wobei es offensichtlich wichtig ist, nicht mit den Fingern der einen in die Fläche der anderen Hand zu klatschen, sondern – so wie ich das letztes Jahr bei der wunderbaren und musikalischen verwandten Band Tinariwen schon beobachtet hatte – mit beidhändig ausgestreckten Fingern.
Amir singt zudem die Hauptmelodien, immer wieder im Wechselgesang mit den anderen. Das ist einfach, weil es sich um alte Volkslieder handelt, deren Texte jeder kennt – oder zumindest jeder, der sich mit Gnaoua-Musik auskennt. Gegen Ende des Konzerts kommt noch eine Truppe Marokkaner rein, setzt sich neben mich und singt ganz selbstverstädnlich mit, während Amir meist zum Schluss der sehr langen Songs den Takt gehörig beschleunigt und einen unglaublich ganzheitlichen Sound aus der Gimbri holt, die nicht nur als Saiteninstrument, sondern auch als Trommel funktioniert.
Die Musik hat etwas tranceartiges. Das kommt nicht von ungefähr. Denn sie stammt von Schwarzen, die vor mehreren Jahrhunderten aus westafrikanischen Ländern als Sklaven nach Marokko verschleppt wurden, hier dann zum Islam konvertierten und dann in den arabisch gesungnen Gnaoua-Liedern von dem schweren Leben auf dem Land sangen, allerdings auch alte Traditionen beibehielten. Bis heute werde diese Musik, erzählt mir ein Rasta tragendener, marokkanischer Hippie, der sich seit einigen Monaten für Gnaoua begeistert und nun ganz erfolgreich bei Amir mitsingt und -klatscht, immernoch zu nächtelangen Zeremonien der Geisterbeschwörung genutzt, bei der bis zum Sonnenaufgang ununterbrochen gespielt werde.
Auch ich bin schwer angetan von Amirs Musik, allerdings endet der großartige Abend schon um Mitternacht, als das Ramses schließt.
Jetzt würde ich eigentlich nur noch gern wissen, welche Musik ich denn tatsählich bei Hassan im Auto grhört habe. Dass finde ich allerdings mal wieder erst mit Hilfe von Google heraus. Da habe ich zunächst mal den sehr hilfreichen Blog moroccanstreetsounds gefunden, bei dem zwar viele Links nicht mehr funktionieren, der aber in kurzen Texten doch einen ganz guten Überblick über die wichtigsten Interpreten der Chaabi, der populären Musik, gibt.
Und dort bin ich dann auch endlich auf den Mann mit „R“ gestoßen, den in Marokko angeblich jeder kennt: Mohamed Rouicha, ein 2012 verstorbener Musiker, der seine Lieder meist in dem Berber-Dialekt Tamazigth singt, dazu vor allem die Loutar, ein weiteres Saiteninstrument mit sehr eigenem Sound spielt.
Typisch sind auch die leicht verfremdet klingenden Stimmen der Frauen im Backgroundchor, mit denen er im Wechsel singt und vor allem der Drei-Viertel-Takt, der sich häufig erst nach langem anfänglichen Rumdgedänel durchsetzt.
Und wer jetzt immer noch nicht versteht, warum mich diese Musik so begeistert, muss halt selbst mal nach Marokko fahren. Und wer mich versteht erst recht.