grimo auf reisen

die welt liegt uns zu füßen

Nolympia in Berlin

„Es sieht so aus, als bräuchten wir eine neue NOlympia-Bewegung“, schrieb Harald Wolf kürzlich im Neuen Deutschland. Anlass für den Text des ehemaligen Berliner Wirtschaftssenators von der Linkspartei war die anstehende Bewerbung Berlins um die Olympischen Spiele 2024. Und das weckt tatsächlich Erinnerungen. Denn Berlin wollte die Spiele schon einmal, im Jahr 2000, ausrichten. Und als Anfang der 90er Jahre die Bewerbung dafür lief, hatte die Stadt – ähnlich wie heute – eindeutig andere Probleme zu bewältigen, als ein zu teures Sportfest. 

Eine breite Protestbewegung vom autonomen AOK (Anti-Olympia-Komittee) über PDS bis zu den Grünen ging damals auf die Straße – zuletzt am 18. September 1993, eine Woche vor der Vergabe der Spiele, bei der Berlin zum Glück kläglich versagte.

Der Text von Harald Wolf hat mich an die Zeit erinnert. Und daran, dass damals die Videowerksatt autofocus ein längeres Video zu dieser Demo gemacht und dahinein die Musik dieser Band geschnitten hatte, die damals erst auf dem Dach des besetzten Hauses Kastanienallee 77 und später nochmal bei der Abschlusskundgebung auf dem Senefelder Platz gespielt hat.

Die Band wurde damals als „Wawavox“ angekündigt, aber so nannte sich nur die Besetzergruppe aus der K77. Wenn die Band überhaupt einen richtigen Namen hatte, dann wohl „HIlf dir selbst sonst hilft dir Gott“. Aber den wiederum kannte eigentlich nur der Sänger, der viele Jahre später mit Herrn Oppermann mal die Band grimo gründen sollte – und der sich mit diesem Text gerade an die Zeit damals erinnert.

Netterweise hat autofocus nun im Archiv gewühlt und mir einen Kopie des alten Videos gemacht. Ich habe davon – auch weil die Bildrechte leider nicht ganz klar sind – nur die Tonspur runtergezogen und voila, hier ist er: der wahrscheinlich einzige Audio-Live-Mitschnitt einer sehr kurzlebigen, dafür aber umso schrammeligeren Band von ihrem größten Auftritt vor über 10.000 Menschen:

Der Song selbst war tatsächlich noch viel länger als die hier zu hörenden gut fünf Minuten. Er hatte, wenn ich mich recht erinnere, insgesamt elf Strophen.  Entstanden war er erst eine Woche vor der Demo, als unser Gitarrist Matthias im Probenraum das rumpelnde Riff spielte, Bass und Schlagzeug mitjammten und ich dann spontan das rausgerappt habe, was mir zu der Zeit eben im Kopf rumspukte. Und das war die Anti-Olympia-Bewegung. Da  kamen die erste Strophe und der Refrain ohne groß nachzudenken von allein.

Wir waren uns gar nicht sicher, ob der Song gut ankommen würde. Also hatten wir erstmal Schlagzeug und Verstärker auf dem Dach der K77 aufgebaut – und dann losgelegt, als unten die Demo über die Kastanienallee vorbeizog. Viele blieben unten vor dem Haus stehen und gingen erst weiter, als vom Demolautsprecher die Durchsage kam, dass wir nochmal auf der Abschlusskundgebung spielen würden. Also haben wir unsere sieben Sachen schnell auf zwei Handwagen gepackt, sind zum Senefelder Platz gezogen und haben dort unseren einen Song nochmal gespielt.  Die Bühne war auf einer Brache, ungefähr dort, wo heute der große Bioladen in einem Neubau steht.

Der Auftritt hatte neben dem Video übrigens noch zwei weitere unmittelbare Folgen. Zum einen wurden wir von Judith Demba, damals sportpolitische Sprecherin der Grünen, eingeladen, den Song noch einmal zu spielen: eine Woche später, im Tränenpalast, wo die Grünen die erwartete Absage an Berlin feiern wollten. Wir duften dort unmittelbar vor der Bekanntgabe der Entscheidung, die per Live-Übertragung aus Monaco kam, die Bühne entern und unseren Nolympia-Rap spielen. Gefühlt 20 Fotografen und mehrere Kamerateams waren mit auf der Bühne. Hinter mir saß Arne am auseinanderbrechenden Schlagzeug, neben mir ein Ersatzgitarrist, weil Matthias keine Zeit hatte. Und ich mit den elf Strophen Text auf einem Ausdruck auf Endlospapier, weil ich das natürlich nicht auswendig konnte.  Und im Publikum sogar der eine oder andere, der den Refrain mitsang. Es war großartig! Nicht nur, weil die Spiele an Sydney vergeben wurden.

Die andere Folge, war meine allererste taz-Schlagzeile:

„Auf den Mond, den Mond, der ist unbewohnt!“

über einem von dem geschätzten Kollegen Bernd Pickert geschriebenen Text.

 

PS: für den Fall, dass jemand den Song-Text versteht, aber den nicht den Inhalt, hier noch ein kleines Glossar:

Samaranch: damals IOC-Chef, galt – welch Überraschung! – als korrupt.

Diepgen, Eberhard: damals Regierender Bürgermeister von Berlin (CDU)

Nawrocki, Axel: Chef der Berliner Olympia GmbH; Geldverschleuderer

„Wir bleiben alle“:  Slogan der Protestbewegung gegen Mietervertreibung. Entstanden aus dem Kürzel WBA,  das zu DDR-Zeiten für den Wohnbezirksausschuss der nationalen Front stand, eine „bürgernahe“ Blockorganistion, die rund um die Oderberger Straße von Oppositionellen übernommen worden war – und nach der Wende 1992 neugegündet wurde. Slogan und Kürzel werden bis heute gern für Proteste gegen Gentrifizierung gebraucht.

„Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn …“:  Zitat aus „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ von Ton, Steine, Scherben. Gibts als Video hier.

Hönkel-Brief:  Tja, hönkeln, das war mal so ein Begriff für, tja, nun, hönkeln halt. Der Kollege Helmut Höge schrieb einmal, er beziehe sich auf Trommelsound vom 1. Mai 1987. Der im Song-Text erwähnte Hönkel-Brief fand sich auf einem Flugblatt, das damals die Runde machte. Den Inhalt habe ich dann nur zitiert.

UPDATE: autofocus hat das komplette Video inzwischen online gestellt, hier ist es:

One response to “Nolympia in Berlin”

  1. Frank sagt:

    geiler text – und mindestens genauso gut gefällt mir der unter-bandname

    „hilf dir selbst, sonst hilft dir gott“

    fein 😉

    lg frank

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