grimo auf reisen

die welt liegt uns zu füßen

Die verschwundene Schwester: Am Küchentisch unserer Gastgeberin in Rosario erfahren wir, wie allgegenwärtig die Zeit der Diktatur noch ist. Und wie unter der aktuellen Regierung Argentiniens die Armut wächst.

ROSARIO (gri) Eine Stunde vor unserer Weiterfahrt sitzt sie plötzlich mit uns am Tisch. Ein Satz, fast beiläufig, mit aller Wucht. Die ganze brutale Geschichte der Diktatur Argentiniens.

Silvia, unsere Gastgeberin in Rosario und ihre Tochter Cecilia haben uns noch auf Quätschchen eingeladen. Die Ältere ist Psychologin, die Jüngere eigentlich Fotografin, arbeitet aber derzeit für einen Radiosender. Wir reden über Politik. Bei uns in Deutschland, hier in Argentinien, über den übersehbaren Rechtsruck überall auf der Welt. Und über die Schwäche und Inkonsequenz der Linken. Und wir reden über Perón, den ehemaligen Präsidenten Argentiniens, der das Land von Mitte der 1940er an fast 30 Jahre geprägt hatte und auf den sich heute hier immernoch nahezu alle Parteien berufen – von links bis rechts. Weil seine Politik je nach Sichtweise so vielschichtig oder so uneindeutig war.

Perón habe sich nicht von den Ultrarechten distanziert, sagen die beiden, und damit letztlich den Putsch durch das Militär 1976 und die Diktatur vorbereitet, die bleiernen Jahre, wie die Zeit bis 1983 hier genannt wird, in der 30.000 Menschen verschwanden. Spurlos. Weil, wie man heute weiß, politische Gegner nicht nur als Subversive gebrandmarkt wurden, sondern gefoltert und bei lebendigem Leib aus Militärflugzeugen ins Meer geschmissen wurden.

„Meine Schwester war eine der desaparecidos“, sagt Silvia. Wir verstummen. Sie auch. Dann fügt sie hinzu. „Das war 1977“. Sie sei eines Tages nicht mehr nach Hause gekommen. Seither habe man nichts mehr von ihr gehört. Das Haus ihres Vaters sei dann noch durchsucht worden, alles sei zerstört worden. Ihre Mutter sei einen von den „abuelas de la Plaza del Mayo“ gewesen, den Großmüttern des May-Platzes, die jahrelang vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires mit weißen Kopftüchern im Kreis liefen, um Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder und Enkel zu verlangen.

Silvia drückt sich eine Träne weg.

Wir hatten in Buenos Aires, am Anfang unserer Reise, auch die ESMA, die ehemalige Militärschule besucht. Dort ist seit wenigen Jahren ein kleines Museum untergebracht, das an die Zeit erinnert, als dort im Dachboden eines der Gebäude die politischen Häftlinge gefangen gehalten und gefoltert wurden. In denen mindestens 30 inhaftierte Frauen Kinder zur Welt brachten, die ihnen gleich nach der Geburt weggenommen wurden – um sie bei „systemkonformen“ Eltern aufwachsen zu lassen. Die Mütter wurden danach meist umgebracht.

Das ESMA-Museum war übrigens der bisher einzige Ort auf unserer Reise, in den wir nicht mit Fridolin durften. Der Eintritt sei für Kinder unter 12 ausnahmslos verboten, erklärten uns freundlich aber bestimmt die Frauen am Eingang. Wegen der Brutalität der ausgestellten Geschichte. Aber auch für den Fall, das zufällig Angehörige einer hier verschwundenen Schwangeren hier in der Ausstellung zu Besuch sein könnten, während wir mit Baby vorm Bauch herumlaufen. Wir waren dann einzeln drin – während der jeweils andere mit dem Kleinen draußen auf der Wiese wartete.

Da war das für uns noch „nur“ die schwierige Geschichte dieses Landes. Jetzt aber in Rosario im Esszimmer von Silvia, bei Bier und Brot und Schinken, da wird klar, dass diese Geschichte immernoch sehr lebendig ist.

Wie alt war deine Schwester?, fragt Katha. In deinem Alter, antwortet Silvia, die selbst jetzt kurz vor der Rente steht. Das Ende der Diktatur liegt kaum mehr als 35 Jahre zurück. Gerade mal ein halbes Leben.

Was hätte ich sonst über Rosario geschrieben, ohne diese letzte Stunde an Silvias Küchentisch?

Dass die Stadt laut meinem Reiseführer als diejenige mit der höchsten Lebensqualität gilt, was wir aber nicht nachvollziehen können?

Dass sie auf der einen Seite des breiten Rio Parana liegt, auf dessen anderer Seite sich gar kein richtiges Ufer befindet, sondern ein bis zu 70 Kilometer breites Feuchtgebiet, weltweit das größte nach dem Amazonasbecken, wie uns Frederico erzählt, der uns zusammen mit einer Familie in einer kleinen Lancha durch die Nebenarme des Parana schippert, unter der großen Brücke hindurch, vorbei an Reihern, an Adlern und den kleinen Hütten, in denen unter anderen er selbst wohnt.

Dass man oben in La Florida, einem Vorort von Rosario im Fluss schwimmen kann. Oder etwas weiter unten im Freibad. Dass man dort sich erstmal untersuchen lassen muss, ob man keinen Fußpilz zwischen den Zehen hat und keine Läuse auf dem Kopf, bevor man ins Wasser darf, in dem man sich dann erstmal daran gewöhnen muss, dass dort neben kreischenden Teenagern auch jede Menge Käfer und Cucarachas schwimmen, selbst metertief im Wasser?

Dass wir in der Nähe unserer Unterkunft ein „Comedor“, Speisesaal, genanntes Eckrestaurant gefunden haben, in dem wir an einfachen Tischen nicht nur das weltbeste Rindersteak und wunderbaren Rotwein (mit Eis!) bekommen haben, serviert von einem anfangs mürrisch wirkenden Kellner, in leicht verwaschener, weißer Jacke, der dort seit 35 Jahren arbeitet und sich im Laufe des Abends als Marathonläufer entpuppt, der davon träumt, mal in Berlin zu laufen – und der jetzt eine Unterkunft dort haben wird, falls er wirklich mal kommt. Und dass begeisterte Einheimische das Lokal laut Cecilia nur „el vomito“ – das Kotzen – nennen, weil man dort so gut und günstig ist, dass man sich immer überfrisst?

Dass man im Parque de la Independencia eine Bank findet, auf der sich die Eltern von Che Guevara erstmals mit ihrem Neugeborenen fotografieren ließen?

Und dass am Ufer des Parana seit 1944 das gigantische, eindeutig phallische Denkmal für die „bandera“, die argentinische Nationalflagge, steht, das in seinem kompletten Stil sofort an andere unliebsame Epochen auf dieser Welt erinnert?

„An die Nazis“, sagt Cecilia später ohne zögern, als wir sie später darauf ansprechen. Ihre Mutter überrascht das, sie habe das noch nie so gesehen. Aber auch für uns war es mehr als augenfällig.

Die beiden sind selber links. Und schimpfen über den derzeit noch regierenden Präsidenten Macri, der mit seiner Liberalisierung das Land aus der Wirtschaftskrise führen wollte. „Aber jetzt sind Armen ärmer denn je“, hatte vor ein paar Tagen schon eine Argentinierin gemeint, mit der wir in einem Café am Strand des Rio Parana ins Gespräch gekommen waren.

Das ist unübersehbar – spätestens wenn man zwischendurch mal in Uruguay war. Auch dort in Montevideo gibt es Obdachlose. Aber in Argentinien ist die Armut allgegenwärtig. Es gibt ganze Familien, die auf Pappen in einer überdachten Ecke hausen. Es gibt unzählige viele Bettler und noch mehr, die sich mit dem Verkauf von Selbstgekochtem wie Empanadas, Churros oder von Taschentüchern ein paar Pesos verdienen. In einem Park in Rosario hatte ich den Eindruck, es gebe mehr fliegende Händler, die auf Fahrrädern herumkurven und mit Vuvuzelaartigen Tröten ihr jeweiliges Angebot anpreisen, als Flaneure auf den Wiesen und Wegen. Bei einem Freiluftkonzert in einem anderen Park am Abend zogen Frauen durch die Menge, die stets drei bis vier Bierdosen auf einem Stück Karton anboten. Offenbar das, was sie gerade so vorfinanzieren konnten.

Ebenso unübersehbar aber sind die sozialen Unterschiede, eine gehobene Mittelklasse, der es gut geht. So gut, dass sie sich die Apartements in einem der zahlreichen Wohntürme in Buenos Aires leisten können, die auch hier in Rosario am Flussufer in den Himmel schießen, deren Foyers wie die Eingangshallen luxuriöserer Hotels wirken und in denen immer ein Pförtner sitzt – was wiederum auch ein Anzeichen des niedrigen Lohnniveaus hier im Lande ist.

Zudem droht stets der brutale Absturz. Der Sohn von Silvia zum Beispiel arbeitete in einer Behörde des Sozialministeriums, die über Zuschüsse für Behinderte entschied. Als die Regierung Macri diese Zuschüsse strich, wurden auch gleich die Mitarbeiter der Behörde entlassen. Seither kümmert er sich darum, dass die kleine Einliegerwohnung im Obergeschoss von Silvias Häuschen per Airbnb an Touristen vermietet wird – damit er wenigstens etwas Geld hat. Zugleich kämpft er mit seinen Exkollegen monatelang für seine Wiedereinstellung – am Tag unserer Ankunft hat er sogar Erfolg damit, erzählt Silvia.

Die Armut trifft die Menschen doppelt wegen der gigantischen Inflation, die hier schon Dauerzustand ist. Unter der linken Präsidentin Kirchner war der Tausch von argentinischen Pesos in Dollar quasi verboten, um das Geld im Land zu halten. Der Neoliberale Macri hat den Handel wieder freigegeben, die Inflation galoppiert weiter – binnen eines Jahres verlor der Peso die Hälfte seines Wertes. Ersparnisse schützen also nicht vor Armut.

Viele, mit denen wir unterwegs gesprochen haben, hoffen auf einen Machtwechsel bei den anstehenden Wahlen. Aber, meinte ein Mann, es könnte auch so enden wie in Brasilien, wo der linke Expräsident Lula wegen Korruption im Gefängnis landete, die Linke dann keinen guten Kandidaten mehr aufbauen konnte und der rechtsextreme Bolsonaro gewann.

Leider haben wir nicht mehr Zeit, um mit Silvia und ihrer Tochter zu reden. Wir müssen zum Terminal, der Nachtbus nach Capilla del Monte wartet. Aber Silvia hat ihrer Schwester in Mendoza Bescheid gesagt, dass wir auf dem Weg in ihre Stadt im Westen Argentiniens sind. Und die hat uns eingeladen, ein paar Tage bei ihr zu bleiben.

Silvia mit Fridolin
Bootsausflug auf dem Rio Parana
Rosario vom Rio Parana aus gesehen
Fliegender Händler im Park

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