grimo auf reisen

die welt liegt uns zu füßen

Eine Stadt so ruhig wie eine Mate. Am Rio Uruguay liegt das Städtchen Fray Bentos. Es ist so großartig unspektakulär, dass wir fünf Tage bleiben. Und ein Stück Weltgeschichte entdecken – mit Fleisch.

FRAY BENTOS (gri) Abends stehen die Türen offen. Die Menschen sitzen davor, draußen auf dem Bürgersteig auf den allgegenwärtigen Klappstühlen und grüßen freundlich die Passanten. Die Hitze schwappt sanfter durch die Straßen, erträglicher als noch am Mittag, als hier alles fast ausgestorben wirkte. Auf dem handwarmen Asphalt liegt ein Kätzchen, die wenigen Autos fahren in weitem Bogen an ihm vorbei. Die Grillen, deren kreischender Gesang wie surrende Stromkabel klingt oder vielleicht doch wie das Klack-Klack-Klack eines rostigen Rasensprengers oder ein schlecht anspringendes Mofa, diese Grillen surren durch die Dunkelheit. Der Schweiß perlt nur noch langsam auf der Haut.

Eigentlich wollten wir gar nicht nach Fray Bentos. Sondern rüber auf die andere, die argentinische Seite des Rio Urugay, wo jeden Samstag ein großer Karnevalsumzug stattfindet – acht Wochen lang. Außer bei Regen. Und weil es zuletzt hier viel geregnet hat, weil man von Montevideo gut mit dem Bus zu diesem 25.000-Einwohner-Städtchen kommt – und vor allem weil Katha bei Couchsurfing auch noch eine Unterkunft gefunden hat, sind wir hier gelandet. Um man zu gucken. Um dann ganz entspannt weiterzusehen.

Und es war ein Volltreffer. Wir wohnen bei Ximena, einer 37-jährigen Krankenschwester, die nebenbei auch noch als Lehrerin für sexuelle Aufklärung arbeitet. Ximena wohnt in einem Backsteinhäuschen, das einer Genossenschaft gehört. Die 52 Haushälften des Conviu haben unten jeweils einen Wohn-Ess-Raum mit offener Küche, dahinter einen kleinen Hof. Oben gibt es noch ein Bad und zwei winzige Schlafzimmer. Das eine davon hat Ximena uns überlassen. Früher wohnte dort ihre schon 19-jährige Tochter, aber die studiert jetzt in Montevideo. Außerdem gibt es noch zwei gern bellende Hunde auf dem Balkon, eine schwarze Katze, diverse Raupen, die gerade eine der vielen Pflanzen auf dem Hof abfressen, bevor sie sich verpuppen, um Monarchfalter zu werden. Ein San-Pedro-Kaktus. Hoch aufschießende Graspflanzen.

Ximena hat ihr ganzes Leben hier verbracht – und will auch gar nicht weg. Montevideo ist ihr schon nach wenigen Tagen zu stressig. Sie liebt die Entspanntheit hier. Und die saugt einen förmlich auf. Hier leben überall selbst Katzen und Hunde in einem Haushalt. Ohne dass sie sich in die Quere kommen.

Und die Menschen hocken nicht nur vor ihren Häusern, sie geben durch die weit offen stehenden Türen auch ein Einblick in die direkt dahinter liegenden Wohnzimmer. Mal sieht man dort das wohl sortierte Chaos einer vielköpfigen Familie. Mal das exakt austarierte, gut möblierte Heim, das auch das Foyer eines blitzeblanken Hotels sein könnte. Mal hängt ein bunter Tigerteppich an der Wand. Und mal glotzen die draussen Sitzenden selbst hinein, weil drinnen im stickigen Zimmer der Fernseher läuft.

Weitere Attraktionen hat Fray Bentos nicht zu bieten. Praktisch keine Schmuckbauten aus Kolonialzeiten. Die Kirche ein spartanisch geschmückter Raum. Hier und da ein schön rostiger Oldtimer, so wie man sie in ganz Uruguay findet. Und ein Café, das „Friends“ heißt, wie die US-TV-Serie aus den 90ern, aber bestuhlt ist wie eine deutsche Stube aus den 60ern.

Aber noch vor 50 Jahren war Fray Bentos ein Ort mit Weltruhm. La cocina del mundo – die Küche der Welt. Denn unten am Fluss stand die Fabrik, in der Hunderttausende Kühe aus Uruguay zu Dosenfleisch verarbeitet wurden. Zu Corned Beef. Erfunden hatte das Verfahren der deutsche Chemiker Justus von Liebig Mitte des 19. Jahrhunderts, wie man im Museum der industriellen Revolution erfährt, das heute auf dem ehemaligen Fabrikgelände untergebracht ist.

Ihm gelang es nicht nur erstmals das Fleisch so haltbar zu machen, dass es weltweit geliefert werden konnte. Zugleich gilt die Marketingkampagne, samt Plakaten, Kochbüchern etc., mit der die Firma ihr Dosenfleisch in die Küchen Europas und Nordamerikas brachte als bis dahin einzigartig. Zudem wurde hier nahezu alles genutzt, was andernorts vielleicht Abfall wäre. Aus dem Blut der Rinder wurde ein Düngemittel erstellt, das dem damaligen, aus Vogelkot gewonnenen Guano Konkurrenz machte.

Und dann gab es noch „Oxo“, ein weiteres Erfolgsprodukt aus Fray Bentos: Brühwürfel aus Kalbfleisch, mit denen vor allem die Soldaten aller Seiten in den beiden Weltkriegen versorgt wurden. Ein Bombengeschäft. „Das Gute am Krieg“, heißt es in einem in dem Museum zitierten Brief eines britischen Soldaten, „war dass ich überlebt habe. Und dass ich jeden Tag einen Oxo-Würfel hatte“. Oxo war so fortschrittlich, dass es sogar von Jules Verne in seinem Zukunftsroman „Die Reise zum Mond“ als Astronautennahrung verewigt wurde.

Auch die Arbeiter hatten zu beißen. Jeden Tag, erzählt uns Ximena, deren Großvater in der Fabrik tätig war, hätten sie zwei Kilo Fleisch umsonst bekommen. Das Museum preist zudem die große Solidarität der ArbeiterInnen, die besondere Rolle der hier tätigen Frauen, die Bedeutung der Gewerkschaften.

Dass es nicht ganz so nett war, dass es unter anderem lange Arbeitszeiten und auch Kinderarbeit, erzählt uns eine Mitarbeiterin des Museums, die uns netterweise auf dem Rückweg im Auto mitnahm, damit wir nicht nochmal eine Stunde durch die Hitze laufen müssen. („Die sind mittags zufuß durch die Hitze bis zur Fabrik?“, fragt später fassungslos eine Freundin von Ximena. Und die bestätigt mit einem freundlichen Lächeln das absurde Verhalten ihrer Gäste aus Deutschland.)

Sicher aber ist: die Fleischfabrik hat nicht nur ihr Dosenfutter von hieraus über den breiten Rio Uruguay in alle Welt verschifft, sondern umgekehrt auch Menschen aus aller Welt angezogen. Auf der Plazuela de los Immigrantes gleich am Hafen stehen Gedenksteine für die Einwanderer aus Polen, Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, den USA und vielen weiteren Ländern, sowie einer, der an die als Sklaven aus Afrika Zwangsumgesiedelten. Ein paar Meter weiter feiert ein weiteres Plätzchen „die lateinamerikanische Integration“.

Die Fabrik wurde in den 70er Jahren von der britischen Eigentümerfirma an den Staat Uruguay übergeben – und ging dann bald Pleite. Weil die Technik nicht mehr auf dem Stand der Zeit war. Und weil hier eine Militärdiktatur herrschte, die nicht nur die Menschenrechte, sondern auch die über 100-jährige Geschichte eines Weltunternehmens zunichte machte.

Heute gibt es in Fray Bentos eine neue Industrie, die derzeit das Land beschäftigt. Vor den Toren der Stadt steht eine große Zellulosefabrik, die schnell wachsende Eucalyptusbäume in einen Rohstoff für Papier und Karton verwandelt. Die finnische Eigentümerfirma UPM möchte für Gütertransporte eine Zugstrecke bis nach Montevideo bauen. Doch der „tren de la UPM“ stößt auf heftige Proteste, auch weil unklar ist, welche Auswirkungen das Projekt samt der damit zusammenhängenden Eucalyptus-Monokultur auf die Umwelt hat. Die linke Regierung verweigert Auskünfte, um die Investoren zu schützen – und macht so die gleichen Fehler wie andere linke Regierungen in Ecuador, Bolivien oder Brasilien, die mit dieser Politik letztlich den rechten Populisten in die Hände spielen, hieß es kürzlich in einem Debattentext der linken Zeitung „la diaria“.

Politik und Widerstand hat hier eine lange Tradition. Das erfahren wie am Sonntag, als uns Ximena in das Haus ihrer Großmutter einlädt. Dort sitzen mir im Garten, Ximenas Mutter schenkt immerwieder den Mate-Becher voll und reicht ihn in der Runde weiter. Und Ximenas Tante mit den eindrucksvollen, weißen, geflochtenen Zöpfen erzählt von der Diktatur, die in den 70ern und 80ern das Land schikanierte. Und alle vier fragen, ob und etwas zu Ximenas Großmutter Kathalina Muggelberg Schmideberg einfällt, die aus Deutschland vor den Nazis geflüchtet sei. Sie sei im bei den „alemanos blancos“ oder so ähnlich gewesen, vielleicht der Weißen Rose? Oder den Edelweisspiraten? Leider lässt sich das mit einfachem googeln nicht klären.

Wir genießen dann erstmal noch altes Brot, das Ximenas Tante mit Ei und Zucker in einen puddingartigen Kuchen verwandelt hat. Dann noch eine Mate. Und später, wie fast jeden Abend auf dem Mirador am Ufer des Rio Uruguay die Sonnenuntergänge. Einmal lässt Katha sich von Ximena begeistern, läuft mit ihr beim etwas übertrieben „Maraton“ genannten Volkslauf in den benachbarten Badeort Las Cañas mit und wird fünftschnellste Frau über 5 Kilometer.

Und am Sonntag gehen wir ins Teatro de Verano, das Amphitheater am Flussufer, in dem bei einer Art „Fray Bentos next top model“ die diesjährige Karnevalsrepräsentantin gewählt wird. Unter den 15 KandidatInnen sind – das macht es etwas abwechslungsreicher – neben drei älteren Frauen auch ein junger Mann. Wirklich großartig aber war der fast einstündige Auftritt der Murga „Sale con fritas“, einem 15-köpfigen Karnevalschor, der mit hochpolitischen Song zumindest uns begeisterte. Das restliche Publikum nahm die eindrucksvolle Show eher so nebenbei hin.

Immerhin haben wir so doch noch ein wenig vom hiesigen Karneval mitbekommen. Denn nach Gualeguaychú auf der anderen Flussseite sind wir erst auf der komplizierten Weiterfahrt nach Rosario gekommen – für ein paar Stunden am Busbahnhof an einem Dienstag. Und Dienstags ist dort kein Karneval. Aber dafür hatte wir ja genug Zeit in Fray Bentos.

Ximena meinte am letzten Abend, als wir bei Pizza unter dem funkelnden Sternenhimmel auf ihrem Hof saßen, dass sie Fridolin einlade wiederzukommen – wenn er groß ist. Vielleicht zu einem Austausch nach Uruguay. Wir halten das für eine sehr gute Idee, schon weil wir ihn dann besuchen könnten.

……………….

Und sonst?

Cucarachas bei Nacht. Im Schlafzimmer. Kein Spaß, sondern eine Schlacht.

Eine Banane am Sonntagabend für das Kind? Bekommt man dahinten, einen Block zurück und dann zweieinhalb rechts den Berg runter, dort im Laden dem Hinweis folgen, dass es nicht hier, aber noch eine Ecke weiter Obst und Gemüse gebe. Dort an einer völlig dunklen Straße von den Jungen Leuten dort erfahren, dass man richtig sei, denn der Laden sei zwar längst zu, gehöre aber der Mutter von einem von ihnen, die dann prompt die quietschenden Türen öffnet. Wie die Pforte ins Paradies. Nur für uns. Für Fridolin.

Busfahrten über die Grenze sollte man rechtzeitig organisieren. Sonst heißt es am Sonntag: Montag rüber nach Argentinien? Nein, frühestens Dienstag und dann mit dem Nachtbus. Tickets dafür können aber erst am Montag verkauft werden, dann aber sicher. Wir bräuchten aber unbedingt Bargeld. Und am Montag heißt es dann, Tickets für den Nachtbus? Gibt es erst wieder für Samstag? Am Ende gibt es eine Verbindung über drei Etappen nach Rosario, die wir auch schon Montag hätten machen können. Und Tickets können in Uruguay nur für die erste dieser Etappen verkauft werden. Was machen wir jetzt nur mit den ganzen uruguayischen Pesos, die wir unnötigerweise abgehoben haben? Vielleicht nimmt Fridolin sie ja mit, wenn er in 16 Jahren wiederkommt.

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