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Hausbesetzung ist Kunst – Dezember 1990

„Die Personen, die sie hier sehen, kommen aus einem Film …“ 20 Jahre später ist dieser Film – oder vielmehr das Video – von der ersten Hausbesetzung nach den Räumungen in der Mainzer Straße erstmals online.

Berlin-Friedrichshain, wenige Wochen nach der Wiedervereinigung. Am 14. November 1990 wurden die 13 besetzten Häuser in der Mainzer Straße geräumt. Uwe Rada hat da jüngst ausführlich in der taz dran erinnert. Andrej Holm hat auf seinem Blog alte Videos verlinkt.

Für viele war es das Ende der Ostberliner Hausbesetzerbewegung.

Für einige aber war es ein Anfang. Wenige Tage nach der brutalen Räumung bildete sich an der Hochschule der Künste (HdK, so hieß damals noch die heutige Universität der Künste, UdK) eine Aktionsgruppe, die etwas tun wollte. Die zeigen wollte, dass es bei Hausbesetzungen weniger um Gewalt, als um Kreativität geht.

Die Idee war schnell geboren: Machen wir eine Kunstaustellung zum Thema. Natürlich in einem besetzten Haus. Aber in welchem? Besetzen wir doch selber eins. Denn Hausbesetzung ist Kunst!

Schon vier Wochen später, am 15. Dezember 1990, eröffnete die Gruppe die „Erste Mainzer Kunstausstellung – Vom Eindruck der Staatsgewalt auf die Netzhaut“ in der Thaerstraße 10, unweit des Bersarinplatzes in Friedrichshain.

Die Besetzung selbst hielt nur wenige Stunden. Aber rund um die Aktion ließen einige der HdK-StudentInnen Videokameras laufen. Bei der Demo am Abend nach der Räumung in der Mainzer. Bei den Vorbereitungen der Kunstaktion und natürlich bei der Besetzung selbst. Da allerdings waren irgendwann die Akkus leer. So gibt es keine Bilder von der eigentlichen Räumung.

Für die „Zweite Mainzer Kunstausstellung“, die die Gruppe dann im Februar und März ganz legal in den Räumen der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK, damals noch am Temeplhofer Ufer)  durchführen konnte, haben wir aus dem vorhandenen Material dann ein 35-minütiges Video geschnitten und mit Interviews von TeilnehmerInnen ergänzt. Jetzt, 20 Jahre danach, ist das Video erstmals in drei Teilen online auf youtube zu sehen.

Teil 1 zeigt die Räumung der Mainzer Straße, die Demo am selben Abend und die ersten Vorbereitungen für die spätere Kunstaktion.

Teil 2 zeigt  die Vorbereitungen zur Ausstellung in dem schon völlig ruinierten Haus Thaerstraße 10.Teil 3 zeigt die eigentliche Besetzung und die Polizei, die die Rolle der Polizei spielt.Vor allem aber wird unser Manifest  zur Hausbesetzung als Kunst vorgetragen, dass ich – weil es auch 20 Jahre später noch so schön ist, hier gleich nochmal dokumentieren will.

Der Text

Dies ist eine täuschend echte Reproduktion der Wirklichkeit. Die Personen, die Sie hier sehen, kommen aus einem Film, der Ihnen vielleicht bekannt ist. Die Polizei spielt die Rolle der Polizei. Und Sie spielen die Rolle des Ausstellungsbesuchers bzw. der Ausstellungsbesucherin. Das Haus spielt die Rolle des zu besetzenden Hauses. Die Presse spielt die Rolle der Presse. Die Besetzer spielen die Rolle der Besetzer.

Es wurde alles genau einstudiert, geprobt bis ins kleinste Detail. Alle Personen handeln nach Anweisung von oben. Es wird Ihnen nicht gelingen, den Film in Ihrem Kopf abzustellen. Die Inszenierung läuft.

Diese Ausstellung ist eine Besetzung. Diese Besetzung ist Kunst. Alle anwesenden Personen befinden sich in einem Kunstraum. In Kunsträumen gelten eigene Gesetze.

Diese Besetzung sieht nur aus wie eine Neubesetzung. In Wirklichkeit ist diese Aktion vollkommen unpolitisch, weil sie sich als Kunstwerk erklärt. Kunst ist nicht ernst zu nehmen. Also ist auch diese Besetzung nicht ernst zu nehmen.

Wir bieten Ihnen mit dieser Ausstellung Unterhaltung erster Klasse. Sie brauchen keine Bedenken zu haben, sich in verbotenes Territorium zu begeben, da Sie sich im Schutzmantel der Kunst befinden. Sie werden den Eindruck der Staatsgewalt auf Ihrer Netzhaut verspüren, aufregender als im Kino, eindringlicher als im Fernsehen, direkter als im Radio. Genießen Sie das Abenteuer einer Neubesetzung, eines der letzten Abenteuer unserer Gesellschaft. Treten Sie ein!

In der taz hatte damals Detlev Kuhlbrodt sehr beeindruckt berichtet.

Die „Erste Mainzer Kunstaustellung“ blieb direkt ohne Folgen. Wie am Ende des Videos schon angedeutet, wurde aus den Verhandlungen mit der WBF (Wohnunsgbaugesellschaft Friedrichshain) über ein Ersatzobjekt nichts.

Die Aktionsgruppe aber machte weiter. Mit der schon erwähnten „Zweiten Mainzer Kunstausstellung“ im Frühjahr 1991, mit dem vergeblichen Versuch eine leerstehende Fabrik in der Rigaer Straße 14 zu besetzen, und dann mit Leerstandsaktionen in Prenzlauer Berg. Im Juni 1992 – nach eine Aktionswoche mit dem Omnibus für direkte Demokratie an verschiedenen Berliner Unis – besetzte die Gruppe als „Vereinigte Varben Wawavox“ schließlich das Haus Kastanienallee 77 in Prenzlauer Berg, in dem bis heute ein selbstverwaltetes Hausprojekt besteht. Aber das ist eine andere Geschichte, die auch schon längst wieder Geschichte ist.

Das Haus in der Thaerstraße stand übrigens mindestens noch zehn Jahre leer. Heute sieht es so aus.

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