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die welt liegt uns zu füßen

Madrid gegen Ausverkauf – Bericht von einer Demonstration

Alberto trägt Baskenmütze, ein freundliches Lächeln und eine der drei Stangen, die das große Transparent einer Organisation halten, die für Aufklärung wirbt, Lügen aufdecken will. Das gehe auf einen belgischen Ökonomen zurück, sagt Alberto, der ein System entwickelt habe, Regierungen, ihre Arbeit zu bewerten. Denn Politiker müsse man immer kritisch sehen, sagt Alberto, auch hier in der spanischen Hauptstadt, wo es eine linke Bürgermeisterin des Bündnisses Ahora Madrid gibt, das wiederum zur linken Bewegungspartei Podemos gehört.

Ja, sagt der etwa 70-Jährige, vieles sie seit dem Antritt der Bürgermeisterin besser geworden, aber ihre Reformen gingen nicht schnell genug, nicht weit genug. Und wenn eine linke Regierung die Strukturen nicht ändere, dann führe sie die Politik der Rechten fort. Deshalb sei er hier.
Er und die vielleicht 700 Teilnehmer der Demo unter dem Motto „Madrid no se vende“ – Madrid verkauft man nicht – von der U-Bahn-Station Sevilla aus durch die Straßen ins Viertel Lavapies ziehen.

„Por una ciudad que merezca la pena ser vivida“, steht auf dem Leittransparent. In etwa: Für eine Stadt, in der er sich lohnt zu leben. Dahinter mischt sich ein breites Forderungsspektrum. Gleich am Anfang verkündet eine Gruppe Schwarzer „Überleben ist kein Verbrechen“ und fordert mehr Rechte für Migranten. Andere wollen den Verkauf sozialer Zentren, öffentlicher Wohnungen oder die Privatisierung eines Wasserkanales stoppen, dann wird gegen die heftigen Kürzungen bei Bildung und Gesundheit demonstriert, ein Mann fordert auf seinem Schild ein „Madrid für seine Bewohner“, ein anderer  trägt ein T-Shirt mit der deutschen Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“, eine Gruppe wendet sich gegen die Festung Europa – „No a la Europa fortaleza“ – und am Ende des Zuges verlangen viele per Sticker an der Jacke die Einführung eines Sozialtickets für Bus und Bahn, ya!

Auch das Publikum ist bunt gemischt, junge Leute mit Rasta oder Kind oder beidem, ein paar hippe Radfahrer, die offensichtlich auch in Spanien zur sozioökologischen Avantgarde gehören, ein Rollstuhlfahrer, vor allem aber überraschen viele Menschen teils weit jenseits der 60, die sich zum Teil offenbar richtig herausgeputzt haben, um ein ordentliches Bild abzugeben. Sowas sieht man in Berlin nur äußerst selten.“Aqui estamos no nos robanos“, skandiert eine kleine Gruppe – hier sind wir, wir lassen uns nicht ausrauben!
Die Demo sei der erste, öffentliche Auftritt des noch recht neuen Bündnisses „Madrid No Se Vende“, erklärt Alberto. Darin hätten sich rund 20 Initiativen zusamengeschlossen, die vor allem Politik von unten machen, in den Stadtteilen, denn auf die komme es an. Es gebe Millionen solcher Initiativen, mischt sich Perla, eine ebenfalls schon 70-jährige, pensionierte Soziologin ein. Na ja, vielleicht nicht Millionen, gibt sie dann zu, aber tausende seien es doch.


Beide schwärmen von der Repolitisierung in Spanien. Und von 15M – der Bewegung des 15. März, die gleich hier ums Eck vor sechs Jahren den zentralen Platz an der Puerta del Sol besetzte – und dort über die dramatische Lage im Land debattierte, wochenlang. Mit 15M habe alles begonnen. Wieder begonnen, meint Perla. Denn die 80er Jahre, die Zeit nach dem Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie sei ja auch hochpolitisch gewesen. Damals ist Perla aus Argentinien nach Spanien gezogen, sie zieht an ihrer Zigarette und lächelt versonnen.
Aber dann sei das alles eingeschlafen. Warum? Schuld seien die Sozialdemokraten, die so lange an der Regierung waren.  Da ist sich Perla sicher. Die hätten alles an sich gerissen. Und dann die Korruption! Die Spekulation. Der Zusammenbruch der Banken, die radikalen Kürzungen im Sozialbereich, die Privatisierung die Pepe vorantreibe … . Pepe?, frage ich nach. La PP, erklärt Perla lächelnd, die Partido Popular, die Rechtskonservativen, die jetzt auch schon viel zu lang an der Regierung seien.

 


Die Armut in Spanien ist unübersehbar. Es sind nicht nur die leerstehenden Spekulationsruinen an den Stadträndern auf der einen, und die Wohnungsnot auf der anderen. Mir sind vor allem die Bettler hier aufgefallen. In Deutschland sind das in erster Linie die Fertigen, die Alkohol und Drogen an den Rand der Gesellschaft gebracht haben. Die sieht man hier kaum. Dafür reihenweise Ältere, Männer, Frauen, mit gepflegtem Äußeren und zumeist einem Pappschild, auf denen sie ihre Lage erklären. Nececito ayuda, ich brauche Hilfe, habe keine Arbeit, keine Unterstüzung und zwei Kinder. Sie wirken durch die Bank sehr authentisch.

Bei vielen Alten, sagt Perla, reiche die Rente bei weitem nicht. An einem Abend haben Herr Oppermann und ich eine lange Schlange von Menschen gesehen, die vor einer kirchlichen Sozialstation auf Einlass warten, drinnen gibt es Essen.
Aus 15M ist auch die Linkspartei Podemos hervorgegangen, die zwar nicht die landesweite Regierung gestürzt, aber doch die Parteienlandschaft radikal verändert hat. Aber Parteipolitik, erklärt der freundliche Alberto, das sei nichts für ihn. Anfangs sei er auch bei Podemos gewesen, aber je mehr die sich etabliert hätten, umso unwohler habe er sich gefühlt. Außerdem sei doch klar, selbst wenn Podemos die Wahlen gewonnen hätte, wären viele Probleme geblieben. Die hätten den gleichen Weg genommen, wie Syriza in Griechenland, meint Alberto. Deshalb setzt er wieder auf das Barrio, das Viertel, in dem er lebt, lokale Initiativen, die der Regierung, gleiche welcher Art, kritisch auf die Füße treten.


Und direkte Demokratie, sagt Alberto, das müsste es geben, mehr direkte Demokratie. Ja, das wäre gut, stimme ich zu. Aber die Lösung aller Probleme wäre das ja noch lange nicht. Denn direkte Demokratie bedeute ja keinesfalls, dass die Menschen dann für linke Initiativen stimmen würden, im Gegenteil. Alberto gibt mit Recht, aber dann müssen wir eben noch mehr kämpfen, reden, überzeugen, auf die Straße treten, sagt der freundliche alte Mann und reckt seine Transparentstange empor.
Aber das sie ja sowieso mehr denn je notwendig. Man müsse sich doch nur umschauen, wie überall die Rechten erstarken. Am Ende, sagt Alberto, bleibt uns wie in Frankreich die Wahl zwischen Neoliberalismus und Neofaschismus. Es sei zum Verzweifeln. Und dass jetzt viele Anhänger des ausgeschiedenen linken Kandidaten Melenchon überlegten, am Sonntag für Le Pen zu stimmen, mache alles noch viel schlimmer.


Aber in so einer Lage sei seine Wahl klar: am Sonntag für Macron, den Kandidaten der Mitte stimmen, und ab Montag dann seine Politik heftigst kritisieren – gern auch auf der Straße.

Dann zieht die Menge die Calle Atocha runter. Die Sonne scheint.

Am Samstagabend zieht eine weitere Demo über die Gran Via, die breite Prachtstraße Madrids. Sie fordert eine „vernünftige Regelung“ zur Legalisierung von Cannabis. In der Menge werden dicke Joints herumgereicht, für Ende Mai ist ein Aktionstag angekündigt: Mani Fiesta Accion! Hier auf der Gran Via sind mindestens doppelt so viele Menschen gekommen wie am Mittag zur Anti-Privatisierungs-Demo. Das Recht auf Rausch scheint vielen wichtiger als die soziale Lage. Auch das sagt etwas aus über die Lage in der Gesellschaft.

 

NACHTRAG: Im Anschluss an die MadridNoSeVende-Demo wurde noch eine Haus besetzt, das als soziales Zentrum genutzt werden soll.

Ein Bericht über die Bestzung und die Hintergründe zum Haus findet sich auf madridiario.

Die BesetzerInnen haben einen eigenen Twitteraccount eingerichtet.

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